■ Folgenschwerer "erster Spatenstich" vor dem Reichstag: Wo Kanzler Kohl heute im Herzen von Berlin ein Loch buddelt, sollen in sieben Jahren Autos, der ICE und die U-Bahn durch drei Tunnel rollen
: Vorwärts in die Vergangenheit

Folgenschwerer „erster Spatenstich“ vor dem Reichstag: Wo Kanzler Kohl heute im Herzen von Berlin ein Loch buddelt, sollen in sieben Jahren Autos, der ICE und die U-Bahn durch drei Tunnel rollen

Vorwärts in die Vergangenheit

Wenn der Kanzler bei seinen Auftritten im Berliner Wahlkampf von Zukunft redet, denkt er an Vergangenheit. Das Land brauche eine Gründerwelle wie in den fünfziger Jahren, schwärmt Helmut Kohl bei jeder Gelegenheit. Auch den Stau auf den innerstädtischen Hauptstraßen will der Mann mit Ideen von vor 30 Jahren lösen, als ganze Stadtviertel für neue Straßen und Autobahnen weichen mußten.

Deshalb will Kohl heute gemeinsam mit den Bauherren Heinz Dürr, dem Chef der Deutschen Bahn AG, und Eberhard Diepgen (CDU), Berlins Regierendem Bürgermeister, unmittelbar vor dem Reichstag mit Hilfe eines Spatens ein kleines Loch in das deutsche Vaterland buddeln. Der „erste Spatenstich“ ist der Start für ein 5,2 Milliarden Mark teures Verkehrsvorhaben mitten im Herzen der Hauptstadt: In sieben Jahren sollen an dieser Stelle im Untergrund täglich 100.000 Autos im Stau stecken, 250 Züge verkehren und eine neue U-Bahn fahren. Berlin wird sich die kommenden Jahre rühmen dürfen, die größte Baustelle des Kontinents zu betreiben. Denn zur selben Zeit baut die Bundesregierung im Tiergarten Kanzleramt und Bundestagsbüros. Drei Kilometer südlich lassen Daimler, Sony, ABB und Wertheim am Potsdamer Platz Bürotürme, Kinos, Hotels, Kaufhäuser sowie Wohnungen in den Himmel schießen. Um welche Dimensionen es dabei geht, macht die Menge Boden und Bauschutt deutlich, die für den Bau der Betonröhren, für unterirdische Zufahrten und Kellergeschosse ausgehoben werden muß: 18 Millionen Tonnen. Für die Tiergartentunnel müssen 27 Millionen Kubikmeter Wasser abgepumpt werden. Das ist mehr als alle Haushalte, Gewerbe- und Industriebetriebe der 3,5-Millionen-Metropole in einem Monat verbrauchen. 2.500 Bäume werden gefällt, acht Hektar Grünfläche zubetoniert. Das Flußbett der Spree wird während der Bauarbeiten verschoben. Ein Teil der Eisenbahntunnel wird mit einer Bohrmaschine durch den Untergrund des Tiergartens getrieben. Die Planungen stammen aus dem Jahr 1991. Damals glaubte der Regierende Diepgen noch, Berlin zum Austragungsort der Olympischen Spiele im Jahr 2000 machen zu können. Die Vereinigungseuphorie war noch nicht vorbei, und Wirtschaftsinstitute sagten ein heute nicht mehr nachvollziehbares Wachstum der Stadt voraus, die Drehscheibe für Osteuropa werden sollte. Trotz massiver Kritik von Verkehrsexperten und Bürgerinitiativen setzte die Bahn und die in Berlin regierende Große Koalition im Wiedervereinigungstaumel auf einen neuen zentralen Umsteigebahnhof an der Stadtbahn, die die Bahnhöfe Zoologischer Garten, Friedrichstraße und Alexanderplatz verbindet. Eine neue, bald zehn Kilometer lange Nord-Süd-Achse wird Berlins Schienenwege zu einem Kreuz ergänzen, auf drei Kilometer die Spree, das Regierungsviertel, den Tiergarten und den Potsdamer Platz unterqueren (siehe nebenstehende Karte).

Jährlich sollen an dem neuen Lehrter Bahnhof 16 Millionen Fahrgäste aussteigen. Damit sie von dort überhaupt wegkommen, muß ein zusätzlicher U-Bahn-Tunnel gebaut werden, auf einen weiteren S-Bahn-Tunnel wurde inzwischen verzichtet. Der Autotunnel soll die heutige Entlastungsstraße ersetzen, die den Tiergarten zerschneidet und das Regierungsviertel in zwei Teile getrennt hätte; die Bundesregierung lehnte einen „Durchgangsverkehr“ zwischen Kanzleramt, Bundestagsbüros und Reichstag einfach ab.

In der Hauptstadt hielt sich der Protest gegen die geplante Gigantomanie bislang in Grenzen. Zwar verbündeten sich 60 Bürger- und Verkehrsinitiativen sowie Umweltverbände zur „Anti-Tunnel- GmbH“. Zwar reichten 18.000 Bürger, Organisationen und Verbände Einwendungen ein. Von einer breiten Ablehnung in der Bevölkerung jedoch kann keine Rede sein. Dennoch könnte sich der heutige Tag für Kohl, Dürr und Diepgen zu Berlins „schwarzem Freitag“ entwickeln. Vorgestern legten vier Anwohner und die Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz (BLN) Klage beim Bundesverwaltungsgericht ein. Ihr Rechtsanwalt zeigte sich optimistisch, gegen U-Bahn- und Autotunnel bereits bis Januar 96 einen Baustopp durchgesetzt zu haben. Die Kläger werfen dem Berliner Senat und der Bundesregierung vor, entgegen bundesdeutschem und europäischem Recht die Bürgereinwände zu spät undnicht genügend gewürdigt zu haben.

Inhaltlich lehnt die Anti-Tunnel-GmbH alle drei Tunnel ab. Sie bedeuteten für den Tiergarten den Todesstoß. Der Autotunnel werde zusätzlichen Verkehr in die Stadt holen. Der U-Bahn-Tunnel sei unnötig, weil paralell die S-Bahn fährt. Der Zentralbahnhof konterkariere die offiziell dezentralen Planungen des Senats. Das Initiativen-Bündnis fordert statt eines zentralen Bahnhofs, für den vier andere InterCity-Bahnhöfe geschlossen werden sollen, die Wiederherstellung des Berliner Eisenbahnrings mit neuen Bahnhöfen; der Ring hat einen Durchmesser von zehn Kilometern und verbindet Berlins Subzentren.

Die Bündnisgrünen wiederum haben im Falle einer Regierungsbeteiligung in Berlin angekündigt, die Tunnelplanungen aus finanziellen und verkehrspolitischen Gründen zu kippen. Der Bau des Regierungsviertels würde sich angeblich nicht verzögern. Die Tiergartentunnel bekämen bei einem entsprechenden Wahlergebnis am 22. Oktober für SPD und Bündnisgrüne jene Bedeutung, die das Tagebauprojekt Garzweiler II bei den rot-grünen Koalitionsverhandlungen in Nordrhein-Westfalen hatte. Dirk Wildt, Berlin