Jörg Haider will alles oder nichts

■ Österreichs Regierung ist am Ende. Heute wird das Parlament aufgelöst, am 17. Dezember sind Neuwahlen

Wien (taz) – Regierungen stürzen nach Mitternacht. In allen Ländern der Welt können die streitenden Akteure so immerhin behaupten, bis zuletzt zäh um eine Einigung gerungen zu haben. Folgerichtig trat der Chef der „Österreichischen Volkspartei“ (ÖVP), Vizekanzler und Außenminister Wolfgang Schüssel, in den frühen Morgenstunden vor die Presse und stellte lapidar den Totenschein für die seit neun Jahren regierende Große Koalition aus: „Wir haben uns sehr bemüht. Wenn's nicht geht, muß man das auch zur Kenntnis nehmen.“ Und: „Nun ist wirklich der Wähler am Zug.“

Zerbrochen ist das Bündnis in der Nacht zu gestern an der Unfähigkeit, sich auf einen Haushalt für das Jahr 1996 zu einigen. Der Haushaltsentwurf, den der sozialdemokratische Finanzminister Andreas Staribacher vorgelegt hatte, wurde vom bürgerlichen Juniorpartner in der Luft zerrissen (Schüssel: „Schwindelbudget“). Die SPÖ wiederum lehnte die Sparvorschläge der Volkspartei ab. Daß die Vorschläge am Ende kaum um mehr als eine Milliarde D-Mark auseinander lagen, tat nichts zur Sache – hatte sich doch zuletzt der Eindruck verstärkt, die ÖVP suche nur noch nach einem Anlaß, um aus der politischen Ehe mit der Vranitzky- SPÖ zu entfliehen.

Nur das Stigma des Vertragsbruches hatte die Volkspartei vermeiden wollen, und so schickte Schüssel seine Getreuen ein ums andere Mal in die zuletzt offenkundig sinnlosen Verhandlungen. Die Parole hatte Schüssel aber bereits Ende letzter Woche ausgegeben: „Neuwahlen sind keine Tragödie.“ In jedem Falle aber eine Posse. Denn klar war zunächst nur, daß die Regierung Vranitzky mit der Aufkündigung der Koalition durch die ÖVP keine Mehrheit im Parlament mehr hatte. Da die Sozialdemokraten aber einen Neuwahlantrag der Volkspartei ablehnten, schien der keine Mehrheit zu finden – es sei denn mit Unterstützung Jörg Haiders. Der rechtspopulistische Chef der „Freiheitlichen“ (F) konnte sich schon getrost ausrechnen, wie er vom Debakel der Regierung am meisten profitieren könne. Da die drei Mittelparteien SPÖ, ÖVP und Haiders Freiheitliche in Umfragen beinahe gleichauf liegen, könnte die rechtspopulistische Truppe bei Neuwahlen sogar stärkste Partei werden. So hätte Haider den Neuwahlantrag unterstützen können – oder gar ablehnen und sich die Perfidie leisten, die einst stolze bürgerliche Großpartei wieder zu einem Bündnis mit der SPÖ zu zwingen. In jedem Falle hätte Haider die Entscheidung über eine Neuwahl zum Parlament gehabt – bis die Sozialdemokraten gestern nachmittag ihren Widerstand aufgaben und ankündigten, bei der heutigen Abstimmung den ÖVP-Antrag auf Neuwahlen unterstützen zu wollen. Die sollen, verkündete Bundeskanzler Franz Vranitzky, „so schnell wie möglich stattfinden“. Wahrscheinlichster Termin ist der 17. Dezember.

Wer nach diesen Wahlen mit wem regiert, ist allerdings unklar. ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel rechnet sich zwar – beflügelt von Umfragen, die ihn in der Wählergunst im Aufwind sehen – Chancen aus, mit seiner ÖVP erstmals seit 1970 stärkste Partei zu werden. Ob er aber dann – nunmehr als Kanzler – wieder mit der SPÖ koalieren wollte oder ob Schüssel gar ein Bündnis mit Haider im Schilde führt, ist weniger klar. Bislang erschien der ÖVP- Chef resistent gegen das Liebeswerben des F-Führers. Haider selbst läßt derzeit erklären, er wolle eine solche Koalition allenfalls, wenn seine Freiheitlichen der größere Koalitionspartner sein würden – und er selbst somit Kanzler. Sollte Schüssels Partei stärker werden, dann soll sein Stellvertreter Ewald Stadler den Posten des Vizekanzlers übernehmen. Haider selbst will sich dann nicht an der Regierung beteiligen. Robert Misik