Vom Mythos

■ Den alternativen Theatern Polens geht es besser als den städtischen Bühnen

Derzeit gastieren renommierte Vertreter des sogenannten alternativen Theaters Polens in Berlin. Sogenannt deshalb, weil die im Rahmen von „grenzenlos“ präsentierten Gruppen teils schon dreißig Jahre existieren, so daß sie unmöglich heute noch in einem gemeinsamen Sinne „alternativ“ zu den gesellschaftlichen Verhältnissen oder den Organisationsstrukturen des Staatstheaters sein können.

Ein buntes Ensemble nicht mehr ganz junger, tanzbäriger, dickbäuchiger oder spindeldürrer Männer und ebenso unterschiedlicher Frauentypen brachte etwa das Krakauer KTO Theater am Donnerstag im Podewil auf die Bühne, um ironisch beliebte und bekannte Kino-Mythen zu zertanzen.

Ganz anders als mit der gestylten Ästhetik westeuropäischer Tanztheater näherte sich KTO in „Cinema“ seinem Thema mit Mitteln des Vaudeville, des Slapstick und des Stummfilms. Damit stellt die Inszenierung auch das Klischee der religiös-mythischen Bilderschwere, die dem polnischen Theater durch seine bekanntesten Vertreter Tadeusz Kantor und Jerzy Grotowski noch aus den 70er Jahren anhaftet, in Frage.

Das KTO wird in Polen zur dritten Generation des alternativen Theaters gerechnet, dessen Anfänge im Studententheater aus der Zeit der politischen Liberalisierung nach Stalins Tod liegen. Das KTO wird städtisch subventioniert, und da es keine eigene Spielstätte hat, kann es die Publikumsnachfrage durch wenige Aufführungen im Monat groß halten. Während zwei Drittel der 60 institutionalisierten Theater Polens kurz vor dem Bankrott stehen, geht es dem KTO, wie den meisten alternativen Theatern, recht gut. In Krisenzeiten gibt es ja auch immer noch die Möglichkeit, sich mit Straßentheater zum Publikum hinzubewegen, was fast alle auch tun.

Von den eingeladenen Theatern ist das Teatr Osmego Dnia (Theater des achten Tages) am stärksten politisch profiliert. Nach Einführung des Kriegsrechts in Polen 1981 wurde es wegen Verbindungen zur Bürgerrechtsbewegung mit Aufführungsverboten belegt und 1984 geschlossen. 1985 emigrierte die Gruppe nach Italien, von wo sie erst 1990 nach Poznan zurückkehrte. Lech Raczak, der frühere künstlerische Leiter des Teatr Osmego Dnia, ist auch einer der wenigen, der sich traut, öffentlich das Bild vom polnischen Nachkriegstheater als Hort der Regimefeindlichkeit anzuzweifeln. Dies sei ein Mythos, gemacht von den Theaterleuten.

Immerhin definierte sich das alternative Theater lange Zeit darüber, eine Gegenöffentlichkeit darzustellen. Insbesondere zur Zeit des Kriegszustands gewann es entsprechend an Popularität, was sich auf die künstlerische Entwicklung nicht unbedingt günstig ausgewirkt hat. 1989 verschwanden dann auch viele Gruppen von der Bildfläche.

Für ein ganz autonomes Theaterkonzept steht die Gardienice Theatre Association, die Wlodzimierz Stainiewski 1977 gründete, nachdem er mit Jerzy Grotowski zusammengearbeitet hatte. In ländlicher Abgeschiedenheit betreiben die zwölf Mitglieder der Kompanie ihre ethnologischen Feldstudien. Aus tradierten Liedern, Mythen und Ritualen ziehen sie den Stoff für ihre Theaterarbeit, die sie mit einem ökologisch zu nennenden Selbstverständnis im Einklang mit der Umwelt in Gardzienice bei Lublin praktizieren.

Im Gegensatz dazu erscheint Akademia Ruchu (Akademie für Bewegung) aus Warschau, 1973 von Wojciech Krukowski gegründet, als regelrechtes Großstadttheater. Konzeptkunst, die sich mit abstrakten Fragen im Spannungsfeld von Kunst und Gesellschaft beschäftigt. Als Zusammenschluß verschiedener Künstler treffen in ihren Performances und Straßenaktionen Elemente aus bildender Kunst, Film und Theater aufeinander. Kathrin Tiedemann

Akademia Ruchu Warschau: 14./ 15.10., Diskussion über alternatives Theater: 16.10., Teatr Osmego Dnia: 17./18.10., Gardzienice Theater Association: 19./20.10, alles Podewil; Teatr Wielki Warschau: 19.–22.10., Hebbel-Theater