Schimmel- Ecke Goethestraße

Mehr Verständnis für den osmanischen Hof als für aktuelle politische Probleme: Die umstrittene Orientalistin Annemarie Schimmel bekommt morgen den Friedenspreis  ■ Von Jürgen Gottschlich

Was immer Annemarie Schimmel, der designierten Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, dieser Tage vorgeworfen wird, eins muß man ihr sicher zugute halten: Die mittlerweile emerittierte Professorin ist eine enorm fleißige Frau. Rund 80 Bücher hat sie neben ihrem Lehramt entweder selbst geschrieben oder herausgegeben. Angefangen von Reisebeschreibungen bis zu Abhandlungen über das Zahlenmysterium im Islam, hat die Orientalistin den Gegenstand ihrer Bewunderung, das Morgenland, in seinen historischen, literarischen und vor allem religiösen Aspekten vielfältig beackert – mit einer Ausnahme: Der politischen Situation des Nahen Osten und indischen Subkontinents widmet sie bestenfalls einige Anekdoten am Rande.

Frau Schimmel soll den Friedenspreis des Buchhandels bekommen, weil „ihr Denken jener für den Frieden unter den Völkern heute entscheidenden Möglichkeit der Synthese von Islam und Moderne nachspürt“, meint der Stiftungsrat des Börsenvereins. Wenn da die Juroren die alten Dame mal nicht in eine falsche Schublade gepackt haben. Annemarie Schimmel sucht keine Synthese, sondern sie verkündet eine Botschaft. Sehet her, der Orient lebt, das Morgenland der Romantik ist lebendig – man muß nur seine Geheimnisse entschlüsseln.

Diese Geheimnisse sucht und findet sie in der Poesie, in der Musik und in der Religiosität der Menschen, vor allem in der spirituellen Auseinandersetzung mit dem Islam. Obwohl von Haus aus Protestantin, ist Annemarie Schimmel keine distanzierte Analytikerin einer anderen Religion, sondern vielmehr eine Gläubige. Dafür brauchte sie nicht zu konvertieren, sondern nur den Islam in seinen „Mystischen Dimensionen“ als Weg zum einen Gott beschreiben, den sie dann als Christin durchaus mitgehen kann.

Nicht zufällig behandelt ihr Hauptwerk eben diese „Mystischen Dimensionen des Islam“. Im Sufismus – der spirituellen Entrückung des Gläubigen aus der scheinbaren Realität in die Wirklichkeit Gottes – gibt es keine Bürgerkriege, keine Golfkriege, keine Fatwas und keinen Fundamentalismus. Wer aber tatsächlich etwas über Sufismus wissen will, ist bei Annemarie Schimmel an der allerersten Adresse. „Mystik“, schreibt sie, „kann als Liebe zum Absoluten definiert werden; denn was echte Mystik von asketischer Haltung trennt, ist die Liebe. Diese Liebe kann das Herz des Mystikers in die göttliche Gegenwart tragen, gleich dem Falken, der seine Jagdbeute fortträgt und ihn so von allem in der Zeit geschaffenem trennen.“ Die „Mystischen Dimensionen“ darf man allerdings nicht mit einer Einführung in den Islam verwechseln – das Werk ist hochkomplex und fordert viel Geduld und Interesse am Gegenstand.

Die Friedenspreisträgerin hat sich daneben auch im Anekdotischen versucht, was sie lieber hätte lassen sollen. Ihre Reiseerzählungen aus Pakistan und Indien versammeln eine Fülle von Peinlichkeiten, die Gutwillige ihr als Naivität, Kritiker als reinen Zynismus auslegen werden. Immer im Plauderton, ist sie einmal zum Tee beim pakistanischen Militärdiktator Zia ul Haq. Mit dessen Vorgänger Butho, der von demselben Militärregime gehenkt wurde, war sie ebenfalls gut bekannt, und Benazir Butho, seine Tochter und jetzige Regierungschefin in Pakistan, war ihre Schülerin in Harvard.

Frau Dr. Schimmel trifft vor allem in Pakistan einen Provinzchef nach dem anderen und läßt ihre Leser nicht zuletzt an ihrem großen Glück teilhaben, daß eine Straße in Lahore, der früheren Königsstadt der Moghuln, nach ihr benannt wurde – gleich um die Ecke der Goethe-Straße, denn in Pakistan weiß man sie offenbar richtig einzuordnen.

Es gibt aber auch Bücher von Schimmel, die Spaß machen. Ihre Hymne an Maulana (türkisch: Mevlana) Dchelaleddin Rumi, den persischen Dichter und Mystiker, dessen Sohn später als Vermächtnis des Vates den Derwischorden im türkischen Konya gründet, ist ein Lesevergnügen.

Befreit vom professoralen Duktus und jenseits der Peinlichkeiten ihrer Reisebekanntschaften, zeigt sich Schimmel von ihrer besten Seite: In den Übersetzungen und Interpretationen von Dichtung und Poesie der wichtigsten islamischen Denker vor bald tausend Jahren.

Daß auch sie selbst durchaus Phantasie und schriftstellerisches Talent hat, beweist sie in dem Buch „Die Welt des Islam – zu den Quellen des muslimischen Orients“. Nach einer Einführung in „Das Wesen des Islam“, die sich vor allem um Verständlichkeit bemüht, stellt sie in eigenen Geschichten, die auf Zitaten aus Primärquellen beruhen, historische Lebenssituationen aus unterschiedlichen islamischen Ländern vor. Ganz nebenbei wird in diesen Geschichten auch noch deutlich, in welcher Welt Annemarie Schimmel eigentlich lebt: Sie kann sich besser in die Familie eines Kalligraphen am osmanischen Hof versetzen, als das zeitgenössische Drama einer algerischen Großfamilie verstehen, die zwischen FIS und Säkularisten schwankt.

Sie selbst macht aus dieser Haltung auch keinen Hehl. In der Einleitung zu ihrem Pakistan-Indien- Reisebuch stellt sie die rethorische Frage, ob es nicht besser wäre, statt Sufi-Heiligtümer zu suchen, sich den aktuellen politischen, demographischen und wirtschaftlichen Problemen der genannten Länder zu widmen. „Doch“, so bekennt sie, „da ich weder Politologin, noch Soziologin, auch keine Ethnologin oder Finanzexpertin bin, habe ich die geliebten Länder von meinem Standpunkt aus betrachtet und versucht, die Werte zu erkennen, die in Geschichte und Kultur des Islam seit Jahrhunderten prägend waren und noch weiter sind.“

Was aber ist für sie die Konklusion dieser Werte? Im Epilog ihres Hauptwerkes, die „Mystische Dimension“ gibt sie darauf eine Antwort, die wiederum Anlaß zu Auseinandersetzungen gibt: „Die Mystik der Liebe und des Leidens, die den Menschen lehrt, für ein Ziel, das außerhalb seiner selbst liegt, zu leben und zu sterben, ist heute vielleicht die wichtigste Botschaft des Sufismus.“

Ihre Kritiker sehen darin eine Rechtfertigung für die Kindersoldaten, die über die Minenfelder an der iranisch-irakischen Grenze gejagt wurden. Für ihre Anhänger ist diese Botschaft dagegen ein Aufruf zu einer Lebensführung, die die Egoismen der individualisierten, spätkapitalistischen Welt durchbricht und sich wieder seinem Gegenüber zuwendet.