Interaktives Fressepolieren

■ Am Samstag wurde aus dem „Wehrschloß“ eine virtuelle Hochburg, verantwortlich war das „Kulturnetzwerk Neuron e.V.“

Ein Stapel Zeitungen gilt ebensowenig als multimedial wie ein Regal voller Bücher oder Platten. Türmt man allerdings Fernseher übereinander, ist das geradezu das Erkennungszeichen für multimediales Geschehen. Darauf konnte natürlich auch das „Kulturnetzwerk Neuron e. V.“ am Samstag nicht verzichten, als es darum ging, das Wehrschloß in eine virtuelle Welt namens Quicksand zu verwandeln. Deuteten willkürlich angebrachte Plastikplanen und silbern glänzende Platten bereits an, daß man sich futuristisch fühlen sollte, konnte es durch die in jede freie Ecke gestapelten Glotzen keinen Zweifel mehr geben, daß hier virtuell-interaktive Multimedia-Cyber-Realität der ganz alten Schule praktiziert wurde.

Auf den Bildschirmen sah man meistens nichts außer Bildrauschen oder einer schlechten Kabelkanal-Raubkopie des Films „Metropolis“. Die Interaktionsfreudigkeit der BesucherInnen hielt sich vor 22 Uhr in Grenzen, was vielleicht an den fehlenden Fernbedienungen, gemütlichen Sitzgelegenheiten und Knabbereien lag. Allerdings erfuhr sie einen plötzlichen Anstieg, als Deutschlands marktführender Fernsehsender begann, den Kampf Maske gegen Graziano zu übertragen. Wurde zuerst höchstens mal kurz und lustlos am Sendersuchlauf gedreht, war plötzlich ruckzuck das richtige Programm gefunden, und etliche fieberten mit, wer wem die Fresse polieren würde.

Die anderen Möglichkeiten, mit der Welt außerhalb des Freizeitzentrums in Kontakt zu treten, waren dünn gesät. Zwar hatte man die Möglichkeit, an zwei Computern durchs Internet zu surfen, aber zwei Computer waren bei dieser recht gut besuchten Veranstaltung natürlich recht vergeblich. Und wer selbst einen Computer besitzt, weiß, wie diese Computer-Freaks sind, wenn sie einen besuchen: Erstmal an den Rechner setzen, gucken, ob was Neues drauf ist, und sich stundenlang nicht mehr davon lösen, ohne daß man als Beisteher eine Ahnung hätte, was da gerade vor sich geht. Anders war es im Wehrschloß nicht.

Die beiden Verzückten und Entrückten, die an den Tastaturen saßen und auf die Bildschirme starrten, hatten kein Ohr für die Bands und DJs, die sich in Kneipe und Saal abrackerten. Das war auch nicht weiter nötig, denn Ungewohntes gab es nicht zu hören. Grimmige Hardcore-Musiker gaben sich im Saal das Mikro in die Hand, während in der Kneipe gelassen gegroovt und psychedelisch improvisiert wurde.

Abgesehen von den flackernden Fernsehern in den Ecken und unverhofft an Wände projizierten Underground-Videos unterschied sich also wenig von anderen Wehrschloß-Samstagen. Was die Plattenaufleger zwischen den Live-Einlagen auf die Plattenteller legten, lief lediglich nach der alten DJ-Taktik ab, eine Maschine mit einem leicht anderen Ratter-Rhythmus anzumachen, wenn die, die man zuerst angemacht hatte, auch dem Letzten langweilig wird.

Als ebenso unspektakulär entpuppte sich die Tanzperformance, die die „bewegungsbrigade SYNAPSENSPRUNG“ auf einigen Baugerüsten vorführte (zappeln, still sein, zappeln), sowie das enervierende Stahlfaßgetrommel, von dem schwer zu sagen war, ob es sich um Programm oder einen spontanen Anfall von Interaktivität handelte.

Eine kurzzeitige Rettung des Abends versprach das Duo „Happy Grindcore“. Wortreich brach der Frontmann aufs vergnüglichste mit traditionellen Hardcore-Gepflogenheiten: „Jetzt kommt ein Lied gegen Vegetarier, weil Vegetarier kein Fleisch essen, und wer kein Fleisch ißt, kriegt keine Muskeln, und nach der Revolution brauchen wir Leute, die ordentlich mit anpacken können.“ Danach sprang er schreiend ins Publikum, während sein Partner energisch aber unhörbar auf einer Akustikgitarre herumdrosch. Die DJs verstanden den Spaß nicht und drehten hastig ihre Musik wieder auf, um die lustigen Störenfriede von der Bühne zu scheuchen.

Andreas Neuenkirchen