Eintopf, kapitalistisch gesalzen

Theoretisch ist Kuba immer noch eine sozialistische Insel. Tatsächlich existieren gleich vier Marktwirschaften friedlich nebeneinander  ■ Aus Havanna Reynaldo Escobar

Um die unverzichtbaren Dinge des täglichen Lebens zu erwerben, stehen die Kubaner vor vier Möglichkeiten: die Rationierung, der freie Markt, die Dollar-Shops und der Schwarzmarkt. Dem entsprechen die vier Varianten, mit denen ein normaler Kubaner zu dem dafür nötigen Geld kommen kann: das vom Staat gezahlte Gehalt, Arbeit auf eigene Rechnung, Überweisungen von Verwandten im Ausland oder Gesetzesverstöße.

Vor einigen Jahren schrieb eine regierungsoffizielle Journalistin einen Artikel, der in die Anthologie sozialistischer Presse eingehen wird. Sein Titel: „Lob der Rationierung.“ Darin erklärt sie, daß die Rationierung als System der Warenverteilung die höchste Errungenschaft der kubanischen Revolution sei.

Dank der Rationierung hat jeder Bürger das Anrecht auf einen Grundwarenkorb zu spottbilligen Preisen. Das Ministerium für Binnenhandel organisiert diesen Markt seit mehr als 35 Jahren. Jede kubanische Familie besitzt eine Rationierungskarte, die sogenannte libreta, die jährlich erneuert wird. In der libreta hat jeder Monate eine Seite, und auf dieser werden die vorgesehenen Produkte peinlich genau eingetragen. Es gibt eine festgesetzte Menge (Reis, Bohnen, Zucker, Kaffee, Eier, Fisch, Salz und ähnliches), die jede Familie in einer ganz bestimmten Ausgabestelle – und nur dort – erhält.

Früher erfüllte der Staat die vorgesehene Menge mit religiöser Treue, und wenn ein Produkt in einem Monat nicht erhältlich war, wurde es im nächsten nachgeliefert. Aber in den letzten fünf Jahren haben sich die Dinge geändert. So hat es in diesem Jahr noch kein einziges Mal Öl, Schweinefett, Tomatenpüree, Waschmittel oder Seife gegeben, obwohl die libreta allmonatlich ihre Verteilung vorsieht. Haushaltsseife gab es nur im Januar und Februar. Milch gibt es nur für Kinder unter sieben Jahren und für schwangere Frauen ab dem vierten Monat. Butter und Käse gibt es nicht.

Eine zweite Rationierungskarte ist für Industrieprodukte, Kleidung, Schuhe und Haushaltswaren zuständig. Seit 1991 ist sie nicht mehr erneuert worden, was bedeutet, daß seitdem niemand Unterwäsche oder Damenbinden, Laken oder Hemden, Schuhe oder Hosen gekauft hat.

Um alles zu bezahlen, was man über die libreta kaufen kann, ist ein Gehalt von 200 Pesos mehr als genug, selbst für einen Familienvater mit zwei Kindern, dessen Ehefrau nicht arbeitet. Nur: Das Essen reicht nicht.

Seit Oktober letzten Jahres nun existiert eine zweite Variante: die freien Bauernmärkte, auf denen man Reis, Bohnen, Gemüse, Obst und Fleisch in unbegrenzten Mengen kaufen kann, zudem in jedem beliebigen Stadtteil, egal, ob man dort wohnt oder nicht. Auf diesen Märkten setzt der Preis die Grenze. Wo ein Pfund Reis per libreta gerade 24 Centavos kostet, muß man hier 10 Pesos bezahlen. Eine Banane kostet einen Peso, eine Apfelsine ebenfalls. Eine kleine Flasche Tomatenpüree kostet 15 Pesos, ein Pfund Schweinefleisch 45 Pesos, ein Pfund Kaninchenfleisch 35. Um diese Preise zu bezahlen, reicht auch ein überdurchschnittlich guter Verdienst von 310 Pesos monatlich – wie sie ein Journalist, Kategorie A, verdient – nicht aus, selbst wenn er ledig und ohne Kinder ist.

So ist mit den freien Märkten die Arbeit auf eigene Rechnung erlaubt worden, nach Jahren des Verbots und noch immer nur in kleinem Umfang. Überall gibt es jetzt Fahrradreparateure und Reifenflicker, Handwerker und fliegende Händler, die Teigtaschen oder Saft verkaufen. Damit verdienen sie das Geld, um unter den neuen Bedingungen überleben zu können.

Die dritte Variante existiert, seit vor zwei Jahren in Kuba der Besitz von Devisen legalisiert wurde. Im ganzen Land hat der Staat Geschäfte eröffnet, in denen Seife, Öl, Waschpulver, Milch, Butter, nationales oder importiertes Bier, Unterwäsche, italienische Schuhe, Sony-Farbfernseher, kurz: all das verkauft wird, was es in Kuba weder auf dem rationierten noch auf den freien Märkten gibt – gegen Dollars, versteht sich. Um an diese zu kommen, ist die Mehrheit der Kubaner auf Familienangehörige im Ausland angewiesen, das heißt auf jene Kubaner, die nicht teilhaben wollten an der leuchtenden Zukunft, die der Sozialismus versprach, und statt dessen Kuba verlassen haben, um vom US-Kapitalismus ausgebeutet zu werden. Hinzu kommen diejenigen, die bei ausländischen Firmen in Kuba beschäftigt sind und einen Teil ihres Gehalts in harter Währung beziehen, sowie diejenigen, die von den Touristen Dollars abstauben, sei es als Trinkgeld, für den Verkauf von Souvenirs oder den Verkauf ihres Körpers.

Die vierte Möglichkeit, um an Waren zu kommen, ist so alt wie die Rationierung selbst: der Schwarzmarkt. Auf ihm gilt sowohl die kubanische als auch die US-Währung, allerdings zu einem Wechselkurs von 20 Pesos für einen Dollar. Und man kann hier alles kaufen, sogar Rindfleisch, dessen Verkauf auf den freien Märkten verboten ist – vorausgesetzt, man ist bereit, sich der Gefahr einer Strafe von bis zu acht Jahren Freiheitsentzug auszusetzen.

Der Schwarzmarkt überbietet die freien Märkte im Angebot, und er unterbietet die Dollarshops bei den Preisen. An ihm nehmen keineswegs nur Verbrecher oder Randgruppen teil, sondern alle Kubaner, die das Glück haben, über gute Kontakte zu den Zwischenhändlern zu verfügen. Diese denunziert auch niemand, wie es eine Nachbarin formulierte: „Man schlachtet ja nicht die Henne, die goldene Eier legt.“ Die Metapher liegt nahe: das rationierte Ei für 10 Centavos glänzt durch Abwesenheit, aber für 5 Pesos das Stück ist es von den Schmugglern jederzeit zu bekommen.

Dieser langen Erklärung der vier verschiedenen Kategorien von Markt und Geld in Kuba hätte man allerdings den klassischen Lehrersatz: „Theoretisch ist es so, daß...“ voranstellen müssen. Denn im wirklichen Leben vermischen sie sich alle: Das Milchpulver, das der Schwangeren zusteht (die Zuteilung ist oft monatelang im Rückstand), verschachert der Verwalter der Handelseinheit für rationierte Produkte an die Schwarzmarkthändler. Die Eingänge der freien Märkte sind der Ort par excellence, um Dollars zu tauschen. Die Seife aus den Dollarshops, die die Lagerarbeiter abzweigen, ist auf dem Bürgersteig gegenüber für den halben Preis zu haben. Der Mechaniker eines Staatsbetriebes organisiert dort das fehlende Ersatzteil, um der Prostituierten für Dollars den Kühlschrank zu reparieren, mit dem diese ihren touristischen Freiern kaltes Bier für harte Währung anbieten wird.

In der Tat, alles vermischt sich mit der gleichen Hemmungslosigkeit, mit der in Kuba schon immer die Hautfarben, die Religionen, die Ideologien und die Zutaten für den ajiaco, den kubanischen Eintopf, gemischt wurden. Übersetzung: Bert Hoffmann

Reynaldo Escobar ist Journalist in Kuba, kann seit 1988 wegen „ideologischer Abweichung“ seinen Beruf nicht mehr ausüben und arbeitet in einer Schulbibliothek in Havanna.