Eine Million „militante und pflichtbewußte“ Afroamerikaner sollen heute beim Marsch der schwarzen Männer auf Washington deren Stärke demonstrieren. Initiator ist der höchstumstrittene Führer der „Nation of Islam“, Louis Farrakhan. Frauen sollen zu Hause bleiben, fasten und beten Aus Washington Andrea Böhm

Ein See der Frustration überflutet Washington

Es ist nicht gerade der typische Montag in der US- Hauptstadt. Zahlreiche Hauptverkehrsstraßen sind gesperrt, die Stadtverwaltung arbeitet auf Sparflamme, viele Schulen haben geschlossen, die Polizei ist in erhöhter Einsatzbereitschaft, auf der Mall, der riesigen Grünanlage zwischen dem Kapitol und dem Lincoln-Denkmal, sind Hundertschaften von Klokabinen aufgereiht. Hubschrauber kreisen. Ein bislang einmaliges Ereignis – eine Großdemonstration schwarzer Männer – soll in wenigen Stunden beginnen. Eine Million Teilnehmer hat der Hauptveranstalter, die „Nation of Islam“, für diesen „Marsch auf Washington“ angekündigt. Egal ob es am Ende „nur“ fünfhunderttausend oder hunderttausend werden: Der „Million Men March“ hat seit einer Woche das O.-J.-Simpson-Spektakel in den Schlagzeilen abgelöst. Beide Ereignisse haben eines gemeinsam: Ihre Interpretation hängt stark von der Hautfarbe des Betrachters ab.

Bei aller nötigen Vorsicht vor Verallgemeinerungen: Laut Umfragen heißt eine Mehrheit der schwarzen im Gegensatz zu den weißen Amerikanern den „Million Men March“ gut, weil sie die „message“ für wichtig hält – auch wenn man mit dem „messenger“ in vielem nicht übereinstimmt. Diese Haltung reicht vom schwarzen Schulbusfahrer bis zur Schriftstellerin Maya Angelou, die heute eine Grußadresse verlesen will.

„Es ist unsere Hoffnung, daß dieser Marsch ein prägender Moment für afroamerikanische Männer wird“, erklärte Donald Payne, demokratischer Abgeordneter aus New Jersey und Vorsitzender des „Black Caucus“, des Zusammenschlusses schwarzer Abgeordneter im Kongreß. Ähnlich argumentieren viele afroamerikanische Frauen. Ihnen hatte Farrakhan aufgetragen, an diesem „Montag zu Hause zu bleiben, zu fasten und zu beten“, während die Männer nicht nur „militant und nüchtern“ demonstrieren, sondern auch „büßen für das, was wir unseren Frauen angetan haben“ und „wieder Verantwortung für unsere Familien und Gemeinden übernehmen“.

Der Appell verfehlte seine Wirkung nicht. Die Ideologie der „family values“ – in der weißen Gesellschaft eindeutig von konservativen Politikern besetzt – ist unter schwarzen Amerikanern unabhängig von ihrer politischen Zuordnung und ihrem Geschlecht durchaus populär – eben weil es gerade in den inner cities immer weniger intakte, sozial abgesicherte schwarze Familien gibt. Jeder dritte afroamerikanische Mann zwischen 20 und 29 Jahren sitzt derzeit im Gefängnis oder steht unter Bewährung. Das Jahreseinkommen für schwarze Männer dieser Altersgruppe ohne Schulabschluß ist in den letzten 25 Jahren um 50 Prozent gesunken. 54 Prozent der schwarzen Kinder leben mit alleinerziehenden Müttern.

Für arme Schwarze bedeuten diese Statistiken trotz rechtlicher Gleichberechtigung einen realen Alltag; daraus wird ein Stigma der Inferiorität und der „Gefährlichkeit“ geformt, dem sich auch die Angehörigen der schwarzen Mittelklasse nicht entziehen können. Kombiniert man dies mit dem massiven Rechtsruck in der amerikanischen Innenpolitik und einer ebenso massiven Krise der traditionellen schwarzen Bürgerrechts- und Links-Koalitionen eines Jesse Jackson, dann „hat man den See der Frustration, den Farrakhan anzapft“, erklärt Russell Adams, Professor an der schwarzen Howard University (siehe Interview). Jackson selbst, dem sein schwindender Einfluß auf das politische Establishment von immer mehr Schwarzen übelgenommen wird, vollzog in der Debatte um den „Million Men March“ die wohl peinlichste Kehrtwendung. Seine Opposition gab er auf, als die Aktion immer mehr Zuspruch unter Afroamerikanern fand. Heute wird er teilnehmen – und hinter Farrakhan einen Platz in der zweiten Reihe einnehmen müssen. Wie sehr der „Nation of Islam“-Führer und einstige Intimfeind von Malcolm X daraus politisches Kapital schlagen kann, bleibt abzuwarten. Ein gelungener PR-Coup ist dies allemal.

Nicht alle sind um eine klare Antwort so verlegen, wenn es um den ehemaligen Calypso-Sänger Farrakhan geht. Die landesweiten Vereinigungen der schwarzen Baptisten-Kirchen haben sich ebenso gegen den Marsch ausgesprochen wie die NAACP, eine der ältesten Bürgerrechtsorganisationen des Landes. „Louis Farrakhan führt uns nicht ins Gelobte Land“, erklärt Mary Frances Berry, die Vorsitzende der „U.S. Commission on Civil Rights“. Obwohl sie mit vielen Zielen der Demonstranten übereinstimme, unterstütze sie grundsätzlich keine Initiative Farrakhans, der „die widerlichsten antisemitischen, rassistischen, sexistischen und homophobischen Ansichten verbreitet, die man sich vorstellen kann“.

Entsprechend scharf haben jüdische Organisationen reagiert. Die „Anti-Defamation League“ (ADL) schaltete ganzseitige Anzeigen in Zeitungen, auf denen antisemitische Äußerungen Farrakhans dokumentiert wurden – unter anderem die Behauptung, Juden hätten am Holocaust und am Sklavenhandel verdient. „Ein solcher Hetzer“, erklärte David Friedman von der ADL, „darf einfach keinen Bürgerrechtsmarsch anführen.“

Auch von Frauenorganisationen kommt harsche Kritik. Patricia Ireland, die weiße Präsidentin der „National Organization for Women“, distanzierte sich ebenso wie eine neue Koalition schwarzer Aktivistinnen: „Wir teilen die Wut und den Zorn der Demonstranten“, erklärte sie, „doch unsere Probleme werden nicht durch Männer gelöst, die sich zu den einzig rechtmäßigen Oberhäuptern unserer Familien, unserer communities und unseres Kampfes für soziale Gerechtigkeit erklären.“

Wie sehr die heutige Massenveranstaltung Teil eines politischen Kampfes sein soll, ist ohnehin fraglich. Die stark religiöse Ausrichtung und die Aufforderung zur kollektiven Buße erinnern nicht an Martin Luther Kings „March on Washington“, sondern an die Organisation der „Promisekeeper“ – eine überwiegend weiße Bewegung, die seit einigen Jahren Sportstadien im ganzen Land füllt. Auch dort bleiben die Männer ganz unter sich, beten und büßen vor Gott – und versprechen sich dann, in Zukunft treue und starke Familienoberhäupter abzugeben. Schwule sind auf diesen Veranstaltungen ebenso ungern gesehen wie Frauen. Was immer heute am Kapitol stattfinden wird – mit dem Anliegen Martin Luther Kings wird es nicht viel zu tun haben.