■ Tansu Çiller bildet neue Regierung: Willkommen, nützliche Idioten!
Ganze zehn Monate lang klopfte Bayram Meral, der Vorsitzende der stärksten türkischen Gewerkschaftskonföderation, bei der türkischen Ministerpräsidentin Tansu Çiller an. Vergeblich. Die Dame schob Terminprobleme vor oder ließ sich verleugnen. Im Terminkalender der neoliberalen Wirtschaftsprofessorin war kein Platz für zehn Minuten mit dem Gewerkschaftschef, der um einen Tarifvertrag für 600.000 Beschäftigte des öffentlichen Sektors bettelte. Über ihre Minister ließ die Dollar-Millionärin, deren Reichtum auf dubiosen Finanzgeschäften ihres Ehemanns Özer Çiller beruht, den Gewerkschaften ihr Angebot zukommen. Null-Lohnerhöhung bei dreistelligen Inflationsraten. Die Arbeiter, die auf den Straßen „Ohne Brot kein Frieden“ schrien, waren für sie buchstäblich fremde Geschöpfe aus einer anderen Welt. Siegessicher schritt sie bei dem Vertrauensvotum in den Parlamentssaal, während ihre Parteigenossen Gewerkschafter Meral, der als Zuschauer gekommen war, anrempelten.
„Ich habe noch keine Schlacht in meinem Leben verloren“, kündigte Çiller vor dem Vertrauensvotum an. Sie sollte recht behalten. Çiller, die am Sonntag mit ihrem Minderheitenkabinett beim Vertrauensvotum scheiterte, hat gestern erfolgreich bei den Sozialdemokraten angeklopft. Der eilig beschlossene Rücktritt des Istanbuler Polizeichefs reichte den Sozialdemokraten, um wieder in eine Koalition unter Çiller einzutreten.
Instabilität und innenpolitisches Chaos haben die Regierungszeit Çillers geprägt. In den kurdischen Provinzen tobt ein Krieg, Massenentlassungen im Zuge der Privatisierung der öffentlichen Betriebe stehen an, und tiefe ideologische Gräben zwischen Laizisten und Islamisten sind aufgerissen. In diesem Sinne wird es weitergehen.
Die Türkei wird – wie bisher – mehr schlecht als recht bis zu den Neuwahlen im kommendem Jahr regiert werden. Eine Politik, die systematisch alle gesellschaftlichen Gruppen ausgrenzt. Sie hat den Kurden den Krieg erklärt, sie hat die Alewiten vergrault und die Arbeiter vor den Kopf gestoßen.
Den Sozialdemokraten wird wiederum die undankbare Aufgabe zufallen, ein freundliches Gesicht zum bösen Spiel zu mimen. Im Vorfeld der Abstimmung im Europäischen Parlament über den Beitritt der Türkei zur Zollunion kann sich Çiller nützlichere Idioten als die Sozialdemokraten kaum wünschen. Ömer Erzeren
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