■ Die Schüler müssen sich zu mündigen Bürgern entwickeln können. Zur Debatte der Denkschrift „Schule der Zukunft“
: Sozial, liberal, nicht revolutionär

Eine derart umfassende Diskussion von Bildungsfragen hat es in der BRD seit langem nicht gegeben: Die Kommission „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ beim Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen hat in der vorigen Woche ihre Denkschrift der Öffentlichkeit vorgestellt; beim Luchterhand-Verlag ist sie erschienen. Auf 350 Seiten werden Reformen nahezu aller Bereiche des öffentlichen Schulwesens vorgeschlagen.

Ohne allzu grobe Vereinfachungen lassen sich die zahlreichen Empfehlungen in einem Grundgedanken zusammenfassen, dem die Mehrheit heute gewiß zustimmt: Die Schüler müssen sich zu mündigen Bürgern bilden können. Das heißt, sie sollen lernen können, wie man sich in der Auseinandersetzung mit anderen über seine Interessen verständigt und wie man sie in fairer Weise realisiert. Unter demokratischen Verhältnissen kann ihnen niemand mehr sagen, was sie wollen sollen.

Mit glaubwürdigen Begründungen kann ihnen ein Bildungskanon mit festen Wissensbeständen nicht mehr vorgegeben werden. Mündigkeit können die jungen Leute aber nur entwickeln, wenn ihnen in der Schule eigenverantwortliches Handeln zugemutet und ermöglicht wird.

Anders als durch diese Erfahrung können sie die dazu notwendige Disziplin nicht erwerben. Gewachsen sind sie dem Anspruch eigentverantwortlichen Verhaltens häufig nicht. Es obliegt den Lehrern, die Spannung zwischen Verhaltensanforderungen und Verhaltensfähigkeiten in produktiver Weise zu organisieren.

Möglich ist das nur, wenn Lehrer und Schüler von bürokratischen Vorschriften befreit sind. Diktierte man den Schülern demokratische oder andere Tugenden ins Heft, dann machen sie lediglich die Erfahrung eines Diktats. Dabei lernt man auch etwas, zum Beispiel passive Anpassung, die fragwürdige Kunst des heimlichen Durchschlängelns oder die Neigung zu unproduktiver Rebellion. Zu Recht hat die Kommission angemerkt, daß die Schulen kulturellen Werten nicht Autorität verschaffen können, wenn diese in der Gesellschaft nicht mehr gelebt werden. Ihre Reformvorschläge lassen sich so verstehen, daß sie produktiven Zwang zu eigenverantwortlichem Handeln erzeugen sollen. Bildungspolitische Entscheidungen sollen zugunsten kommunaler Schulträger und der einzelnen Schulen dezentralisiert werden. Innerhalb der Schulen sollen bürokratische Bildungsbarrieren beseitigt werden. Auf Landesebene soll nur noch über allgemeine Grundstrukturen des Bildungswesens entschieden werden. Hier wird der Rahmen gesetzt für Entscheidungen, die auf der Ebene kommunaler Schulträger und in den Schulen selbst getroffen werden sollen. Kommunale Schulträgerschaft hat in Deutschland eine lange Tradition, ihre Kompetenzen sind jedoch sehr beschränkt. Sie sollen ihre verschiedenen Bildungsangebote koordinieren und eine Bildungskommission begründen. Im Rahmen allgemeiner Grundstrukturen soll auch in den Schulen ein Mehr an Entscheidungen möglich sein. Schulen sollen je nach Bildungsnachfrage ein eigenes Profil entwickeln können.

Tendenzen zur Schulautonomie sind in vielen Bundesländern schon jetzt zu beobachten. Die Dezentralisierung hat das Bedenken entstehen lassen, sie gefährde die Einheitlichkeit des Bildungswesens; die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft könne auf die Schulen übergreifen. Diese Gefahr besteht tatsächlich, wie man am Beispiel der USA ablesen kann. Am deutschen Beispiel kann man aber ablesen, daß das zentralisierte Bildungssystem mit der dreigliedrigen Sekundarstufe I die soziale Ungleichheit sogar noch bekräftigt.

Die überkommene Standesordnung in der Schule ist seit langem in Auflösung begriffen. Die Empfehlungen sind geeignet, diesen Prozeß zu beschleunigen. Die Grundschule soll zum Beispiel auf sechs Jahre ausgedehnt werden. Reformen der Sekundarstufe I sollen den Schülern ein Mehr an Entscheidungsmöglichkeiten verschaffen. Die formalen Schulabschlüsse und die Vorleistungen, die dazu zu erbringen sind, sollen gewissermaßen portioniert und nach eigener Wahl absolviert werden können. „Bausteine sollen nachgeholt, ergänzt beziehungsweise im voraus erworben werden können.“ Die Berechtigungen, die mit den Abschlüssen der allgemeinen und beruflichen Bildung verbunden sind, sollen angeglichen und die Kurse, die dorthin führen, aufeinander abgestimmt werden. Von der „reflektierten Koedukation“ bis hin zur Ausbildung und Weiterbildung der Lehrer reichen die Vorschläge; es sind mehr als hier dargestellt werden können.

Die Empfehlungen der Kommission sind nicht revolutionär. Sie knüpfen an viele kleine, in der Summe aber doch sehr bedeutsame Veränderungen im Bildungswesen an. Nicht zuletzt deswegen sind die Vorschläge sehr realistisch. Sie sind sozial-liberal temperiert. Aus der sozialdemokratischen Tradition stammt die Vorstellung, die Reformen würden vom wirtschaftlich-technischen Fortschritt und dem gesellschaftlichen Strukturwandel diktiert. Der liberalen Tradition ist zu danken, daß vom Glauben an unabweisbare gesellschaftliche Notwendigkeit Forderungen nach individueller Autonomie abgeleitet werden und nicht nach Ungleichheit, ständischer Uniformierung und Instrumentalisierung der Bildung. Die Ableitung individueller Mündigkeit und demokratischer Schulen aus vermeintlichen Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung ist nicht sehr überzeugend; sie ist auch entbehrlich.

Die Schulentwicklung in der BRD war zwar seit den sechziger Jahren stets vom Glauben an Sachzwänge, vor allem bildungsökonomischer Art, begleitet und auch von Katastrophenängsten. Durchgesetzt hat sich jedoch die Idee der Individualrechte. Schon sehr früh ist es dem Staat zum Beispiel gerichtlich untersagt worden, in den Willen der Eltern und Schüler mit einer Bildungsplanung hineinzuregieren.

Die Freiheit der Fächerwahl und eine wachsende Zahl von Übergängen in der dreigliedrigen Sekundarstufe I und hinüber in die Sekundarstufe II hat den Schülern Selbstbestimmungsmöglichkeiten in ihrer Bildung verschafft. So werden auch die Empfehlungen der Kommission Beachtung finden, weil sie dem Glauben der Mehrheit an Eigenverantwortlichkeit bildungspolitischen Ausdruck verleihen. An diesem Maßstab sind sie in eingehenderen Auseinandersetzungen zu messen und auf ihre Brauchbarkeit hin zu überprüfen. Gero Lenhardt