■ Volk stimmt über Verfassung ab
: Ungeklärtes Schicksal

Mein Mitbewohner will es auch nicht bekommen haben, dieses kleine blaue Heftchen mit der neuen Verfassung. Wie alle anderen 2,4 Millionen Wahlberechtigten soll er am Sonntag über den Inhalt der Broschüre aus dem Parlament abstimmen, aber der diplomierte Politologe weiß nicht, worum es geht. Meine Mitbewohnerin, die Krankenschwester, hat bereits per Briefwahl für die neue Verfassung gestimmt – auf Verdacht. Auch sie wußte nicht, was sich ändern soll.

Die Unwissenheit meiner Mitmenschen ist bedauerlich. Schließlich soll mit der neuen Verfassung erstmals möglich werden, daß auch sie als Berliner Volksinitiativen, -begehren und -abstimmungen starten dürfen. Hätte es diese Möglichkeit schon eher gegeben, der Autotunnel unter dem Tiergarten wäre vielleicht weggestimmt worden. Kein Wunder, daß die CDU im Wahlkampf kein Wort zur Abstimmung über die neue Verfassung verliert, hat sie doch mit Basisdemokratie nicht viel am Hut. In der Großen Koalition hatte sie der Reform zähneknirschend zugestimmt, um einer Ablehnung zusammen mit der PDS zu entgehen.

Um so mehr wäre den Konservativen jetzt die Niederlage bei der Volksabstimmung recht. Frauenförderung als Staatsziel oder Schutz vor der Diskriminierung „nichtehelicher Lebensgemeinschaften“ ist den Schwarzen noch immer suspekt. Der PDS wiederum geht die Reform nicht weit genug. Das ist ein merkwürdiges Argument, da eine Verfassung einen breiten gesellschaftlichen Konsens widerspiegeln soll und von daher immer einen schwierigen Kompromiß darstellt.

Ich hatte das blaue Heftchen übrigens aus unserem Briefkasten gefischt – aber auch nicht gelesen. Denn die neue Verfassung bestand nur aus aus seitenweise Kleingedrucktem. Dirk Wildt

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