„Alle Kriegsparteien müssen die Deutschen akzeptieren“

Außenminister Klaus Kinkel über die deutsche Balkanpolitik, den neuen Einsatz deutscher Soldaten in Bosnien, die schwierige Außenpolitik der Europäischen Union und den heftigen Wunsch nach einem ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen  ■ Von Thomas Schmid und Andreas Zumach

taz: Herr Kinkel, werden Sie schon in wenigen Wochen in Paris Herrn Karadžić und Herrn Mladić die Hand geben?

Klaus Kinkel: Ob Herr Karadžić und Herr Mladić bei einer Friedenskonferenz – wo die endgültig stattfindet, wenn es so weit kommt, ist noch offen – dabeisein können, hängt unterem anderem davon ab, ob der internationale Haftbefehl ausgedehnt wird oder nicht. Das wollen wir erst mal abwarten.

Sie würden es aber nicht von vornherein ausschließen? Milošević hat ja die Mitglieder seiner Delegation bereits genannt: Milošević, Karadžić, Mladić.

Wir haben von Anfang an versucht, mit allen drei Konfliktparteien gerecht umzugehen. Aber wir haben Unterschiede gemacht zwischen denen, die für Aggression und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, und denen, die die Opfer der Aggression waren und sind.

Ihr Vorgänger, Hans-Dietrich Genscher, hat im Frühjahr 1992, wenige Wochen vor seinem Rücktritt, gesagt, Milošević gehöre vor ein Kriegsverbrechertribunal. Über die Politik der Kontaktgruppe, der ja auch Deutschland angehört, ist Milošević zu einer wichtigen Figur, wenn nicht zur Schlüsselfigur überhaupt im Friedensprozeß geworden. Wird ihn nun die Realpolitik davor retten, eines Tages zur Verantwortung gezogen zu werden?

Milošević gehörte zu den Aggressoren. Er hat seine Haltung in der letzten Zeit geändert und den Friedensplan der Kontaktgruppe angenommen. Er hat mit Karadžić gebrochen und mindestens weitgehend die Grenze zu den bosnischen Serben dichtgemacht. Er hat manches andere, was wir von ihm verlangt hatten, etwa die Anerkennung Bosnien-Herzegowinas und Kroatiens in den international anerkannten Grenzen, nicht vollzogen. Aber er hat sich anders als Karadžić und Mladić kooperationsbereit gezeigt. Noch ist aber aus einem Saulus kein Paulus geworden. Also lassen sie uns mal zuwarten.

Der Seite 1 der heutigen Ausgabe der taz (12. 10. 95) können Sie entnehmen, daß der Generalstabschef der serbischen Armee, Perićić, den Angriff auf Srebrenica befehligte und damit auch für die nachfolgenden Massaker mitverantwortlich ist und daß dort eine von Belgrad befehligte Spezialtruppe an Massenerschießungen beteiligt war. Der frühere US-Botschafter in Jugoslawien, Lawrence Eagleburger, hat gesagt: Milošević ist ein Kriegsverbrecher. Sie sagen: Na ja, Paulus ist er noch nicht geworden. Aber letztlich akzeptieren Sie doch, daß man ihn als Friedensgaranten braucht.

Ich habe Ihre Zeitung leider noch nicht gelesen, weil wegen des Nebels heute früh in Bonn alle Zeitungen später eintrafen. Was die strafrechtliche Schuld betrifft, liegen gegen Karadžić und Mladić Haftbefehle vor. Die Verantwortlichen in Belgrad und Sarajevo sind ersucht worden, sie dem Internationalen Strafgerichtshof zu überstellen. Ob ein internationaler Haftbefehl, der sich an die gesamte Staatengemeinschaft richtet, erlassen wird, bleibt der Entscheidung des unabhängigen Strafgerichtshofs überlassen. Was Milošević anbelangt, bleibe ich dabei: Er war Ursprungsaggressor und hat sich ja wahrhaftig über eine sehr, sehr lange Zeit alles andere als kooperativ gezeigt. Ob er im strafrechtlichen Sinn Schuld auf sich geladen hat, haben andere zu prüfen.

Auf der Londoner Konferenz im August 1992 haben sich die EU und die UNO darauf geeinigt, daß militärische Eroberungen nicht anerkannt und „ethnische Säuberungen“ nicht geduldet werden. In der Vereinbarung vom 22. September dieses Jahres in New York werden nun militärisch geschaffene Tatsachen doch zu einem großen Teil anerkannt. Welches Signal ist denn das für andere potentielle Konfliktzonen Europas?

Wir wollen wertorientierte Außenpolitik betreiben und werden dabei immer wieder mit Sachverhalten konfrontiert, die das sehr schwer machen. Trotzdem darf man nicht von der eigenen Auffassung und ethischen Forderungen ablassen. Also verlangten wir die Einhaltung von Menschenrechten, die Respektierung von Minderheitenrechten, obwohl wir wissen und in Kauf nehmen müssen, daß diese Ziele vielfach in der Praxis nicht erreichbar sind. Aber deswegen apodiktisch die diplomatischen, die politischen oder wirtschaftlichen Beziehungen oder den Gesprächsfaden abzubrechen ist in der praktischen Politik nicht möglich. Mit diesem Spagat muß man leben.

Nach dem Abkommen von New York soll zwar Bosnien-Herzegowina als Gesamtstaat weiter existieren, aber zweigeteilt werden, und die Sezession der Teile wird nicht explizit ausgeschlossen. Das ist doch nur das Vorspiel zur Aufteilung des international anerkannten Staates Bosnien-Herzegowina zwischen Kroatien und Serbien. Werden nicht auch hier militärisch geschaffene Tatsachen um eines unsicheren Friedens willen im nachhinein akzeptiert?

Die territoriale Integrität Bosnien-Herzegowinas soll erhalten bleiben. Aber es sind Ethnien anerkannt worden, denen föderative Verbindungen nach draußen zugestanden werden. Wie sich die Situation insgesamt entwickeln wird, weiß ich nicht. Es kann sein, daß nach einem Friedensschluß manches etwas anders läuft. Aber in der praktischen Politik muß man sich eben sehr oft mit dem Erreichbaren zufriedengeben. Erreichbar war, was in der Grundsatzvereinbarung vom 8. September in Genf, in der Verfassungsvereinbarung vom 22. September in New York und jetzt im Waffenstillstandsabkommen festgehalten ist. Weitere Schritte beim Bau des Friedensgebäudes sind notwendig. Wir werden sehen, wie es weitergeht. Ganz wichtig ist, daß nun zunächst die Waffen ruhen.

Man muß sich also mit dem Erreichbaren zufriedengeben. Muß man die „ethnischen Säuberungen“, die Massenvertreibungen also akzeptieren? Oder halten Sie es für erreichbar, daß die 300.000 allein aus Nordbosnien vertriebenen Muslime und die Serben, die jüngst vor der Offensive der bosnischen Regierungsarmee geflohen sind, sowie die 170.000 Serben, die während der kroatischen Offensive aus der Krajina geflüchtet sind, wieder in ihre angestammte Gegend zurückkehren?

Es sind schlimme „ethnische Säuberungen“ vorgekommen, und sie gehen auch noch weiter. Ja, wir waren nicht in der Lage, sie zu verhindern. Ich habe nach der Krajina-Offensive der Kroaten massiv Druck gemacht. Gestern gerade habe ich in einem deutlichen Brief meinem kroatischen Amtskollegen, dem Außenminister Granić, geschrieben: Ihr müßt Euch daran messen lassen, wie Ihr die Frage der Rückkehr der Serben in die Krajina in der Praxis tatsächlich behandelt, wie Ihr überhaupt mit Menschenrechten und Minderheiten umgeht.

Sie haben also einen Brief geschrieben. Sie haben massiv Druck gemacht. Nun heißt es ja, gerade Deutschland habe zu Kroatien besondere Beziehungen, man erwartet also gerade von Deutschland, daß es Druck auf Kroatien ausübt. Wie hat man sich denn diese Druckausübung vorzustellen?

Wir haben unsere besonderen Beziehungen zu Kroatien genutzt. Doch gehen eben diese Beziehungen nicht so weit, daß wir in der Lage gewesen wären, die Krajina- Offensive zu verhindern. Bis eine Stunde vor dem Beschluß des kroatischen Sicherheitsrates habe ich mich bemüht, die Offensive zu verhindern. Ohne Erfolg.

Sind denn Ihre Bemühungen, die Offensive zu verhindern, nicht dadurch konterkariert worden, daß die USA Zagreb deutlich grünes Licht gegeben haben?

Die amerikanische Haltung war gleich wie die unsere.

Wird die Wiederaufbauhilfe an die Rückkehr der Flüchtlinge geknüpft?

Wir werden Wiederaufbauhilfe immer an die Einhaltung von Menschenrechten und die Respektierung der Rechte von Minderheiten knüpfen.

Konkreter bitte: Wird die Rückkehr der Flüchtlinge zur Bedingung der Wiederaufbauhilfe gemacht oder nicht? Tudjman kann ja leicht sagen: Serben, kommt zurück. Die vertriebenen Serben werden aber nicht zurückkommen, wenn man ihnen keine Sicherheitsgarantien gibt.

Vor über 400 Jahren wurden ja die Serben in der Krajina angesiedelt. Während der jüngsten kroatischen Offensive sind sie nun aus ihrer Heimat geflohen, weil sie Angst hatten...

...berechtigterweise Angst hatten, wie sich ja danach herausgestellt hat.

...sie hatten panische Angst. Diese Angst rührte ja auch daher, daß vorher, 1991, über 100.000 Kroaten aus der Krajina auf zum Teil grausame Art und Weise vertrieben worden sind. Die kroatische Regierung sagt, daß einige Serben zurückkommen werden. Ich bin realistisch und sage: Es wird keine große Rückwanderungsbewegung geben. Aber wir verlangen von der kroatischen Seite, daß sie alle Voraussetzungen für eine Rückkehr schafft. Da ich aber leider davon ausgehen muß, daß nur ein kleiner Teil zurückkommen wird oder zurückkommen will, kann man wohl nicht die von Ihnen angesprochene Bedingung stellen. Das wäre unrealistisch.

Aber wie konkret sind denn die Forderungen der kroatischen Regierung gegenüber? Der Hochkommissar der UNO für Menschenrechte, Ayalo Lasso, hat vor zwei Wochen einen sehr deutlichen Brief an Tudjman geschrieben. Er kritisiert darin die Greueltaten, die es in der Krajina gab, und auch die neuen Dekrete der kroatischen Regierung über die Möglichkeiten der Rückkehr und der Wiedererlangung von Eigentum. Diese Dekrete seien mehr Abschreckung als Anreiz zur Rückkehr.

Genau diese Meinung habe ich auch in meinem Brief an Granić vertreten.

Zurück zu Bosnien. Nehmen wir an, der Waffenstillstand hält und es kommt in den vereinbarten zwei Monaten zu einer Übereinkunft in den noch strittigen Punkten, was die Landkarte und die Details der Verfassung betrifft. Nun legt diese Verfassung ja fest, daß jedes Gesetz nicht nur die Mehrheit im gemeinsamen Parlament bekommen muß, sondern auch mindestens ein Drittel der Stimmen in den Parlamenten der beiden ethnisch definierten Staatsteile. Um die Stimmen aus ihren Reihen zusammenzuhalten und so die nationale Gesetzgebung blockieren zu können, werden die beiden Staatsteile doch auf ihre ethnische Homogenität achten. Dies aber widerspricht dem Prinzip der Rückkehr der Vertriebenen.

Die Mitglieder der Kontaktgruppe waren nicht voll damit zufrieden, was in den Verfassungsfragen zustande gebracht werden konnte. Die Punkte, die Sie angesprochen haben, werden von allen, auch von mir, als nicht ganz befriedigend angesehen. Aber es war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr erreichbar. Wir mußten zu einem Waffenstillstand kommen, wir müssen zu einer Friedenslösung kommen.

Aber halten Sie denn die Übereinkunft auf lange Frist überhaupt für eine tragfähige Lösung? Es zeichnen sich – von Sarajevo, Tuzla und einigen anderen Zentren abgesehen – ethnisch homogene Gebiete ab. Da ist der Keim der Revanche angelegt.

Ich halte es für eine zumindest vorläufig tragbare Lösung und besser als das weitere Töten, Morden, Vergewaltigen, Verwüsten, Zerstören.

Nehmen wir an, es kommt zum Friedensabkommen und zur Stationierung der Friedensumsetzungstruppe (Peace Implementation Force – PIF). Dann sollen ja – so heißt es im Abkommen – internationale Beobachter feststellen, ob die sozialen Bedingungen gegeben sind, die die Abhaltung von Wahlen erlauben. Was ist unter sozialen Bedingungen zu verstehen? Vielleicht die Rückkehr der Flüchtlinge?

Was unter sozialen Bedingungen zu verstehen ist, wird noch im einzelnen zu definieren sein. Das kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Die Fragen sind ja noch nicht ausdiskutiert.

Aber ist denn die Abhaltung von Wahlen überhaupt vorstellbar, solange nicht die Möglichkeit der Rückkehr der Flüchtlinge geschaffen ist?

Natürlich wäre wünschenswert, daß die Flüchtlinge vorher zurück sind. Die Konfliktparteien überlegen sich sehr genau, ob eine Rückkehr der Flüchtlinge oder der Status quo „ethnisch gesäuberter“ Gebiete sie bei Wahlen begünstigt.

Ist es denn nicht problematisch, daß jetzt schon festgelegt wurde, die Friedensumsetzungstruppe PIF nur neun bis zwölf Monate zu stationieren und dann – verdächtig nahe zum Termin der US-Präsidentschaftswahlen – wieder abzuziehen? Ist das nicht geradezu ein Anreiz für die Konfliktparteien zu sagen: Da halten wir uns einige Monate zurück und dann...?

Das sehe ich nicht. Jetzt sind mal zwölf Monate angepeilt. Warten wir es ab.

Vor vier Wochen sagte Ihr Kabinettskollege Volker Rühe, deutsche Truppen in Ex-Jugoslawien seien nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Sie selbst haben noch vor einem Jahr gesagt, deutsche Truppen würden „dort eher eskalierend als beruhigend wirken“. Nun sollen aber trotzdem deutsche Soldaten auf dem Balkan stationiert werden? Wie erklärt sich der Sinneswandel?

Kein Sinneswandel. Wir sprachen immer über Bosnien-Herzegowina und hatten im Hinterkopf, daß es problematisch sein würde, deutsche Truppen besonders mit einer der drei Konfliktparteien in Berührung zu bringen. Ich habe da meine Meinung nicht geändert und werde dies auch nicht tun.

Ist denn eine Bedingung der Stationierung deutscher Truppen, daß alle drei Konfliktparteien ihr zustimmen?

Ja. Die Truppen, die dort unten den Friedensplan umsetzen sollen, müssen von allen drei Konfliktparteien akzeptiert sein. Der Beitrag unserer Truppen – er muß vom Kabinett und dann auch vom Bundestag gebilligt werden – ist bewußt so gewählt.

Ist es denn richtig, daß abgesehen von den etwa 70 deutschen Offizieren im neu zu schaffenden Hauptquartier der PIF-Truppe keine deutschen Soldaten in Bosnien stationiert werden?

Ja, so ist es jedenfalls bisher geplant. Aber ich kann nicht ausschließen, daß nach z.B. vorheriger Absprache deutsche Hubschrauber nach Bosnien hineinfliegen, um Kranke abzutransportieren oder in Sonderfällen ein Straßenbaukommando im Interesse aller Beteiligten in Bosnien Nachschubwege repariert.

Aber es sollen ja auch deutsche Pioniere zum Einsatz kommen. Werden die dann in Kroatien stationiert, um in Bosnien Brücken zu bauen?

Eine unserer Hauptaufgaben wird im Bereich der Logistik und des Transportes liegen. Dazu braucht man auch Pioniereinheiten außerhalb von Bosnien-Herzegowina. Aber ich bin kein Militärfachmann und will mich deshalb zu diesem Zeitpunkt nicht in jeder Einzelheit festlegen. Wir müssen das alles im einzelnen noch durchdenken.

Eine der offenen Fragen ist ja, wie man die Russen, deren Stimme im UN-Sicherheitsrat man für ein neues UN-Mandat braucht, an der PIF-Truppe beteiligen kann, ohne sie ins Kommando einbinden zu müssen.

Unumstritten ist, daß die Nato die vorherrschende Rolle spielen wird. Aber die russische und auch die islamische Seite müssen einbezogen werden. Bei der Affinität der Russen zur serbischen Seite brauchen wir Rußland für die militärische Implementierung des Friedensprozesses, auch für die Wiederaufbauleistungen. Kosyrew hat in New York übrigens angekündigt, daß Rußland mit Erdöl- und Gaslieferungen sich am Wiederaufbau beteiligen will.

Wo sind denn die Kompromißmöglichkeiten, wenn Rußland auf einer Beteiligung im Kommando der Truppen besteht?

Wir werden mit Sicherheit einen Kompromiß finden. Es wäre doch gelacht, wenn man nicht eine Kommandostruktur finden würde, die es zuläßt, daß die Nato in erster Linie die Verantwortung trägt und doch russische und islamische Kräfte mit einbezogen werden...

...ohne am Kommando beteiligt zu sein

Da werden sich Lösungen finden lassen.

Der US-Verteidigungsminister Perry und sein russischer Kollege Gratschow haben bei ihrem Treffen Anfang Oktober keine Form gefunden.

Das war ein erstes Orientierungsgespräch

Glauben Sie, daß für den Einsatz der Truppe ein neues UNO- Mandat vonnöten ist?

Ja.

Deutsche Truppen werden in Bosnien also auf keinen Fall tätig, ohne daß die Nato von der UNO neu mandatiert wird?

Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.

Verteidigungsminister Rühe hat gesagt, es sei auch durchaus denkbar, daß Teile der PIF- Truppe schon zum Einsatz kommen, bevor ein Friedensvertrag unterzeichnet wird. Halten Sie für möglich, daß deutsche Soldaten schon stationiert werden, bevor die Unterschriften geleistet sind?

Sie stellen immer so apodiktische Fragen. Im Augenblick haben wir unsere Tornados in Piacenza, unsere Sanitätsleute in Split, wir machen bei der Adria-Überwachung mit, wir fliegen in den Awacs-Flugzeugen mit. Ich würde meinen, daß eine Ausweitung unserer Truppenbeteiligung erst nach einem neuen Mandat erfolgt.

Weshalb, glauben Sie – im Rückblick –, hat es vor vier Jahren die EU nicht geschafft, den Konflikt zu deeskalieren, den Krieg zumindest in Bosnien-Herzegowina, dessen Ausbruch ja alle prophezeiten, zu verhindern?

Ja, jetzt werden Sie gleich die berühmte Frage stellen, ob es nicht falsch war...

Nein, nein. Wir werden die Frage nach der frühen Anerkennung Kroatiens und Sloweniens auf deutsches Betreiben hin nicht stellen. Wir kennen ja Ihre Antwort. Weshalb also konnte der Krieg nicht verhindert werden?

Die Antwort ist ganz simpel: Weil man zur Konfrontation Entschlossene nur schwer davon abhalten kann. Was die europäische Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Zusammenhang anbelangt: Ja, wir waren noch nicht so weit, wie wir hätten sein sollen. Wir haben manches geschafft, manches nicht. Übrigens: Gegen den Willen der Konfliktparteien war und ist keine Lösung dieses tragischen Konflikts machbar.

Das heißt, es gab divergierende Interessen. Wo waren denn die Unterschiede z.B. zwischen britischen und deutschen Interessen?

Es hat Affinitäten zu den jeweiligen Konfliktparteien gegeben: der Russen und Griechen zu den Serben, der Deutschen zu den Kroaten, der Amerikaner und der Deutschen zu den Bosniaken. Das eigentlich Tragische war, daß nach dem Wegschmelzen der kommunistischen Eisdecke, die in diesem Vielvölkerstaat die ethnischen und religiösen Vielvölkerstaatskonflikte unter sich begraben hatte, daß in der wiedergewonnenen Freiheit all diese Konflikte hochzüngelten und nicht mehr gelöscht werden konnten. Die ethnischen Probleme, die dort unten ja nicht erst seit gestern bestehen, waren nicht in den Griff zu bekommen.

Ist man heute einer gemeinsamen EU-Politik denn näher als vor drei, vier Jahren?

Ja. Die Kontaktgruppe hat mit ihren steten Bemühungen den Prozeß so weit vorangetrieben, daß die amerikanische Initiative von Lake und Holbrooke jetzt überhaupt erst Erfolg haben konnte. Und dann kam natürlich eine völlig veränderte Lage auf dem militärischen Feld hinzu. Bis vor kurzem, bis zum Fall von Srebrenica und Žepa, hatten ja die Serben die Oberhand. Nach der Krajina-Offensive hat sich dann die Situation total verändert. Jetzt sind die Serben diejenigen, die am stärksten an einem Friedensschluß interessiert sind, stärker als die Bosniaken und Kroaten, die jetzt das Gefühl haben, sie müßten vor einem offiziellen Friedensschluß noch möglichst viel zurückerobern.

Es entsteht der Eindruck, daß gemeinsame Außenpolitik der Europäischen Union zumeist lediglich bedeutet, daß die einzelnen Staaten für bestimmte Regionen sich gegenseitig die Zuständigkeit zugestehen: der Mittelmeerraum wird den Franzosen, Spaniern und Italienern überlassen, Mitteleuropa den Deutschen.

Als sechs um den Tisch herum saßen, war es einfacher. Als ich vor dreieinhalb Jahren das Auswärtige Amt übernahm, waren es zwölf, jetzt sind es fünfzehn, in Kürze werden wir am Tisch zwanzig sein. Wenn der Tisch größer wird, verändert sich natürlich auch das Interesse an den Speisen, die da aus den verschiedenen Regionen auf den Tisch kommen. Das ist doch normal. Nehmen wir zum Beispiel den Maghreb. Natürlich hat da Frankreich besondere Interessen, auch Erfahrungen, mit den dortigen Problemen umzugehen. Wir würden uns glatt übernehmen, wenn wir versuchen würden, eine deutsche Algerien-Politik zu machen, um die Dinge in eine Richtung zu lenken, wie wir uns das vorstellen. Aber natürlich ist die Stabilität im Mittelmeerraum auch ganz wichtig für uns, für alle Europäer. Wir müssen uns als Deutsche in acht nehmen, uns nicht zu übernehmen. Deutschland kann nicht alle Not und alle Sorgen dieser Welt sich auf die Schultern laden. So sag' ich eben: Algerien ist zunächst mal bei Frankreich gut aufgehoben...

...und wir kümmern uns um Polen und Tschechien...

Wir haben diesen Ländern gegenüber, in denen in deutschem Namen Schlimmes geschehen ist, in der Tat eine besondere Verantwortung und Verpflichtung. Übrigens auch noch aus einem andern Grund: Im Gegensatz zur früheren DDR sind sie bisher nicht in die Europäische Union und in die Nato aufgenommen worden. Deshalb sind wir ihr besonderer Anwalt bei der Heranführung an diese beiden Organisationen.

Zum Thema UNO-Reform. Herr Kinkel, Sie haben ja in sehr deutlichen Worten immer wieder einen ständigen Sitz für Deutschland im Sicherheitsrat gefordert. Deutschland brauche sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen, sagten Sie, oder Deutschland solle sich nicht wie ein impotenter Zwerg verhalten...

Letzteres habe ich nie gesagt...

Jedenfalls haben Sie in einer doch ziemlich penetranten Art und Weise, die anderswo übel aufgestoßen ist, diese Forderung vorgetragen. Weshalb ist es Ihnen so wichtig, daß Deutschland einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat?

Ich weiß schon, daß Ihnen das nicht behagt. Aber da werden Sie immer einsamer. Wir sind seit langem drittstärkster und vor allem prompter Beitragszahler der Vereinten Nationen. Wenn von uns mehr Übernahme von Verantwortung erwartet wird, und das ist so, dann müssen wir auch mehr mitsprechen können, wenn es um wichtige Entscheidungen und unser Geld geht. Die UNO besteht ja im übrigen nicht nur aus dem Sicherheitsrat. Die Vereinten Nationen kümmern sich um viele andere Fragen: Gesundheit, Flüchtlinge, Probleme der Bevölkerungsentwicklung, Migration und so weiter. Deutschland beteiligt sich ganz wesentlich an all diesen anderen Aktivitäten. Ja, ich bin der Ansicht, daß der UN-Sicherheitsrat in seiner jetzigen Zusammensetzung die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs widerspiegelt und nicht die aktuelle Weltsituation; neben Japan müssen vor allem auch die großen, wichtigen Länder der Dritten Welt ihren Platz im Sicherheitsrat finden. Da ist an Japan zu denken und sicher auch an ein lateinamerikanisches Land und andere. Das Verlangen nach einem Sitz der Deutschen hat nichts mit Großmachtanspruch zu tun, sondern wird in der Welt heute als völlig normal angesehen. Der amerikanische, der französische, der britische, der schwedische Außenminister haben von sich aus in ihrer Rede dieses Jahr vor der UNO gesagt: Deutschland muß da rein. Auch bei Umfragen in Deutschland hat sich gezeigt: 70 bis 80 Prozent spüren: Ja, warum sollen wir nicht ständiges Mitglied werden, nachdem wir mehrfach dem Sicherheitsrat schon als nichtständiges Mitglied angehört haben.

Was spräche denn gegen einen oder zwei Sitze für Europa?

Nichts. Wären wir sicher sofort einverstanden. Ein Sitz für Europa.

Und weshalb ist das alles so undenkbar?

Weil die Briten und die Franzosen aus verständlichen Gründen damit nicht einverstanden sind.

Vielleicht sind Sie es ja auch falsch angegangen. Wenn Sie vor drei Jahren, statt so penetrant einen Sitz für Deutschland zu fordern, gemeinsam mit fünfzehn oder zwanzig anderen Ländern einen umfassenden Reformvorschlag für eine Neustrukturierung des Sicherheitsrates angegangen wären, hätten wohl auch die Amerikaner irgendwann mal nachgeben müssen.

Irrtum, Euer Ehren. Sie sind unrealistisch. Stellen Sie sich mal vor, ich würde Getreue sammeln und versuchen, einen europäischen Sitz zu schaffen: Das hätte unsere partnerschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen zu Frankreich und Großbritannien ja wohl nicht gerade gefördert. Also nochmals: Ich vestehe ja, daß Sie da eine andere Auffassung haben; aber auch die taz wird da in absehbarer Zeit die Kurve kratzen.

Aber Italien stellt sich offensichtlich zu Ihrem Begehren eines ständigen deutschen Sitzes im Sicherheitsrat doch quer.

Das ist richtig. Wir sollten mal abwarten und weiter Überzeugungsarbeit leisten.

Aber wenn die Deutschen und die Japaner einen Sitz im Sicherheitsrat erhalten, wird dann die UNO nicht noch mehr zum Instrument der Ersten Welt werden oder jedenfalls von der Dritten Welt so wahrgenommen werden. Da kann sich doch, wie es sich beim Golfkrieg schon angedeutet hat, langfristig ein gefährliches Legitimationsdefizit ergeben?

Gerade viele Länder der sogenannten Dritten Welt unterstützen uns. Man scheint es da anders zu sehen als Sie. Im übrigen nochmals: Große Länder der Dritten Welt haben sicher einen Anspruch, mindestens genauso wie wir.

Aber zunächst wird wohl Deutschland in den Sicherheitsrat kommen?

Es wird eine Erweiterung geben um einige Mitglieder zusammen.

Sie haben ja mal die Hoffnung ausgedrückt, daß Deutschland zum fünfzigsten Geburtstag der Vereinten Nationen da drin sein könnte...

Nein, das habe ich nicht gesagt.

Aber Sie hatten doch zumindest über Jahre hinweg die Hoffnung geschürt...

Auch das nicht. Das hätten Sie vielleicht alles gerne gehabt. Ich habe immer gesagt, es wird relativ lange dauern. Ich habe Butros Ghali jüngst während der UNO- Woche gefragt, wann es denn nach seiner Auffassung zu einer Erweiterung kommen könne. Er sagte mir, er könne sich vorstellen, in den nächsten Jahren. Die Amerikaner drängen doch jetzt stärker. Ich dränge nicht. Wir haben Zeit.