Armer weißer Trash

■ Erfreuen sich größter Beliebtheit: Die großen Absturzkarrieren der sechziger Jahre - ein Zwischenbericht von der Wiener Filmfestwoche Viennale '95

Mit einem konsequent befolgten Konzept und dem sicheren Gefühl für das richtige Timing schafft es der Festivalleiter Alexander Horwath jedes Jahr erneut, im inflationären Festivalbusineß einen unverwechselbaren Meilenstein zu setzen. Die Wiener Filmfestwoche wird zum magischen Ort, wo unsichtbare Fäden von einem Film zum nächsten locken, und heraus kommt ein Gesamtkunstwerk.

Dieses Jahr ermöglichte die Filmauswahl der Viennale '95 (vom 12. bis 22. Oktober) ein rauschhaftes Abtauchen in die Träume und Alpträume der Sixties, mit ungezügelter Kraft und den geliebten Abgründen der Zerstörung.

Auffallend daran: Retrospektive („A Tribute to Philippe Garell“, „The Last American Picture Show“) und aktuelle Produktionen greifen perfekt ineinander. Ein in Europa erstaunlicherweise nie gezeigter Film nimmt die Quintessenz der Reihe vorweg: „The World's Greatest Sinner“ (USA, 1962) von und mit Timothy A. Carey, den man hier als Schauspieler in „Poor White Trash“ (1964) kennt. Es ist die einzige Regiearbeit von ihm. Den Soundtrack lieferte Frank Zappa. Wohl einer seiner ersten Musikaufträge. Überhaupt, er verlangte (für einen Low-Budget-Film!) ein 50köpfiges Orchester, das er auch bekam.

Der Film handelt von nichts weniger als einem mittelmäßigen Versicherungsangestellten, der sich zu Gott erklärt, eine Rockabilly-Band gründet, seine Gitarre zertrümmert, eine Schlange um den Hals trägt, sich zur Präsidentenwahl aufstellt und die Menge zum Wahnsinn treibt. „God for President.“ Jenseitig und roh wie er ist, genießt dieser Film zur Zeit Kultstatus in New York.

Ein Dokumentarfilm von 1995 über eine andere Art von Kultfigur von seinerzeit zeigt Don Was mit „I Just Wasn't Made for these Times“ (USA, 1995). Brian Wilson als Kopf der Beach Boys wird mit seinem hochdramatischen Musikerleben zwischen Superstar und drogenzerrüttetem Zombie porträtiert. Entgegen dem Ruf der Beach Boys sagen heute Musikerkollegen von damals (unter anderem John Cale), wie beeindruckt sie von Wilsons innovativen Arrangements gewesen waren.

Andy Warhol holte Nico als Blondine zu Velvet Underground. Daß sie auch singen konnte, störte nicht weiter. Von Nico waren zu ihren Lebzeiten offenbar immer alle fasziniert. Zunächst hält man das nicht für Dokumentarfilmmaterial. Susanne Ofteringer (Jahrgang 61), in ihrem neuen Film „Nico- Icon“ (Deutschland, 1995), schafft es mit Hilfe der Distanz der neunziger Jahre zu den Sixties, Nicos widersprüchliches Leben unfasziniert sichtbar zu machen. Die Mischung aus unberührtem Höhenflug und grausamem Niedergang wird unsentimental dargestellt, ohne die unglaubliche Kraft dieser Frau zu schmälern. Noch der Todesgesang von ihrem Bandkollegen John Cale am Schluß des Films ist ein Tribut an ihre Power. Denselben höchst lebendig auf dem Festival zu treffen, ließ einen irgendwie wieder hoffen: Es gibt Survivors.

Gleich zwei Filme beschäftigen sich dokumentarisch mit Jean Seberg: „Jean Seberg – American Actress“ von Dubini (Deutschland 1995) und „From the Journals of Jean Seberg“ von Rappaport (USA, 1995). Von der „süßen Kleinen“, die Godard so berühmt gemacht hat, bleibt in beiden nichts übrig.

Hinter politischer Repression (vor allem wegen ihres Engagements für die Black Panthers), schwerster Depression und beruflicher Erfolglosigkeit wird sie plötzlich als Heroine sichtbar.

Mit ihr drehte Philippe Garell 1974 „Les Hautes Solitudes“, den er persönlich auf der Viennale '95 vorstellte. Philippe Garell lebte sowohl mit Jean Seberg als auch mit Nico zusammen. Seine Filme bleiben in der morbiden Faszination gefangen.

So entsteht langsam aus den verschiedenen Mosaiksteinen ein Eindruck, den man kennt; die Zeit der schönen Todgeweihten, deren Kunstproduktion auch nur aus dieser gefährdeten Existenz kommen konnte. Zahlreiche und begeisterte junge Menschen auf der Viennale geben zu erkennen, daß sich diese antike Vorstellung vom Künstler noch immer größter Beliebtheit erfreut. Sigrid Limprecht

Viennale '95, vom 12.–22. Oktober in den Wiener Kinos Filmmuseum, Gartenbau, Künstlerhaus, Metro, Stadtkino und Urania.