Nahegehen, nicht nahekommen

■ Am Rande der Überforderung: Theater für Jugendliche in Berlin. Für das carrousel inszeniert derzeit Jürgen „Kampnagel“ Zielinski in der Schiller Werkstatt

Zur Bühne geht es vorbei an Kisten und altem Gerümpel, durch staubige Vorhänge und verschlungene Korridore. Draußen hämmern und bohren die Handwerker, und ein paar Räume weiter proben Chordamen Musical-Songs. Wenn dann noch die Bühnentechniker eine Unterhaltung anfangen, platzt Jürgen Zielinski der Kragen. „Ruhe!“ brüllt er, daß alles zusammenfährt – und tatsächlich, jetzt hört man nur noch die beiden Schauspieler sprechen, die vorn auf der Bühne an Kreuze gebunden sind. Nach der Probe steigen sie stöhnend herab und massieren ihre schmerzenden Handgelenke. „Bald kriegt ihr Ledermanschetten“, tröstet sie der Regisseur.

Als Kaffeeküche und Besprechungsraum muß die Garderobe der Schiller Theater Werkstatt herhalten. Alles wirkt noch ein bißchen provisorisch in dem Gebäude, das die beiden großen Kinder- und Jugendtheater der Stadt, Grips und carrousel, gemeinsam nutzen. Aber diese kleinen Nachteile werden durch einen großen Vorteil mehr als ausgeglichen: Hier muß der Regisseur nicht an der Inszenierung sparen.

Zielinski, der schon 1991 als erster West-Regisseur am carrousel arbeitete, ist – zunächst für eine Saison – an das reichste deutsche Kinder- und Jugendtheater zurückgekehrt, nachdem sein renommiertes Jugendtheater auf Kampnagel Ende 1993 den Sparplänen des Hamburger Senats zum Opfer fiel.

Morgen hat „On the Open Road“ Premiere, ein Endzeit- Stück des amerikanischen Dramatikers Steve Tesich. Der kulturbegeisterte Menschenfeind Al und der Preisboxer Angel ziehen mit ihrem Karren durch ein verwüstetes Land, in dem mehrere Bürgerkriegsparteien um die Macht kämpfen.

Die Analogie zu Bosnien ist nicht zu übersehen; Steve Tesich stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Vor diesem Hintergrund einer zerfallenden Zivilisation entwickelt sich jedoch eine sehr private Beziehung: Angel, der Ungeliebte, sucht verzweifelt nach Nähe, Al bleibt kalt und abweisend. Am Ende dieses Road Dramas sind die beiden fast Freunde und so gut wie tot.

Aber eben nicht ganz tot. „Zum Theater gehört auch der Aspekt der Hoffnung, das ist die verdammte Aufgabe von Theater“, sagt Jürgen Zielinski. „Jugendtheater muß Fragen aufwerfen und kann nicht Fragen beantworten. Wir können nur Menschen auf der Suche zeigen.“

Pädagogisch angehauchte Stücke, wie sie unter anderem zur Tradition des Grips Theaters gehören, ihr Eins-zu-eins-Realismus und ihre allzu klaren Lösungen sind Zielinski fremd: „Ich will auf keinen Fall belehren!“ Das heißt nicht, daß er sich nicht auf dem Theater mit aktuellen Problemen auseinandergesetzt hätte: mit Drogensucht, Rechtsradikalismus und Umweltzerstörung. Aber bei Zielinski versuchen erwachsene Schauspieler nicht, sich als Pubertierende zu verkleiden, und die Sprache der Stücke biedert sich auch nicht an deren Jargon an. Sein Theater kommt den jugendlichen Zuschauern nicht zu nahe. Aber es soll ihnen nahegehen durch die Emotionen, die es weckt.

„On the Open Road“ mutet dem Publikum einiges zu: Eine gräßlich mißhandelte, halbtote Frau, einen Mann, den seine Peiniger lebendig verbrennen wollen, und die beiden gekreuzigten Helden. Ohne Tesichs makabren Humor wäre vieles kaum auszuhalten. „Aber Jugendlichen kann man mehr zumuten, als die meisten denken“, erklärt Zielinski. „In einer Gesellschaft, in der sie abends die Auswahl zwischen Softpornos und Gewaltfilmen haben, sollte man immer am Rand der Überforderung arbeiten.“

Zur Zeit denkt Zielinski über Berliner Themen für sein Theater nach. „Es kommt mir zum Beispiel vor, als gäbe es hier mehr Suizide als anderswo, das würde mich interessieren – und auch diese vielen Menschen, die durchs Netz gefallen sind, die Ausgetickten, denen man ständig in der U-Bahn begegnet, so daß es manchmal schon bedrohlich anmutet.“

Ein weiteres Thema sind natürlich die Unterschiede zwischen West und Ost. Am carrousel wird Zielinski noch in dieser Spielzeit ein Stück des Berliner Dramatikers Michael Wildenhain uraufführen, das in den bundesrepublikanischen 70ern spielt. Anhand der „Leiden des jungen W.“, die zur gleichen Zeit am carrousel inszeniert werden, bieten sich Ost- West-Vergleiche geradezu an.

Die Claims der Berliner Kinder- und Jugendtheater sind übrigens nach wie vor klar voneinander getrennt: Das Grips Theater hat ein Westberliner, das carrousel ein Ostberliner Publikum. Vielleicht werde der Aufführungsort in der Bismarckstraße endlich auch Besucher aus dem Westen anziehen, hofft Wolfgang Wöhlert, Dramaturg am carrousel: „Wir merken nämlich immer wieder, daß wir bei den Westberlinern noch so gut wie unbekannt sind.“ Miriam Hoffmeyer

„On the open road“ von Steve Tesich hat morgen Premiere, 19.30 Uhr, Werkstatt des Schiller Theaters, Bismarckstraße 110, Charlottenburg