„Ich existiere, weil Kurtis Blow da war“

Drei Jahre nach „Fremd im eigenen Land“ haben Advanced Chemistry endlich ihre erste LP aufgenommen und halten die alten Werte der HipHop-Gemeinde hoch – obwohl dort selbst Antirassismus nicht mehr als verbindlich gilt  ■ Von Thomas Winkler

Noch nicht einmal drei Jahre ist es her, da konnte Cora E zufrieden konstatieren: „HipHop in Deutschland ist eine einzige große Familie.“ Die Zeiten aber sind schnell, und was damals noch richtig war längst schon der Reim von gestern. Gestern war Heidelberg, die Heimatstadt von Cora E, das Zentrum eines Aufbruchs. Torch, Toni L. und Linguist, die drei Freunde von Advanced Chemistry, brachten ihre erste Maxi- Single heraus. „Fremd im eigenen Land“ war am richtigen Ort zur richtigen Zeit, um als den Medien dienlicher Kommentar zu Rostock-Lichtenhagen die Feuilletons zu beherrschen.

Die große Familie zum Netzwerk in ihrem Sinne zu verknüpfen ist den Heidelbergern mißlungen. „Wir haben es versucht“, erzählt Torch heute, „aber wenn du mit jemandem arbeiten willst, und der rippt dich von vornherein ab, dann geht das schlecht.“ Deshalb haben AC seit der ersten Maxi fast drei lange Jahre gebraucht, um nun den schlicht „Advanced Chemistry“ betitelten Longplayer herauszubringen. Ein Grund war der Streit mit MZEE, ihrem langjährigen Label, das sie mit anderen gegründet hatten. „Wir hätten noch viel Geld kriegen sollen, aber das Geld von MZEE ist nie gekommen.“ So haben AC die Platte – wie schon die letzte Maxi „Operation Artikel 3“ – selbst finanziert, trotzdem werden die alten Kollegen in „Stilkontrabluff“ noch respektvoll gegrüßt, auch wenn Torch heute sagt: „Das ist keine Art, sein Busineß aufzubauen.“

Das Netzwerk scheiterte, als endlich Geld zu verdienen war mit deutschem HipHop. Selbst für den französischen Markt haben AC produziert, aber auch von dort läßt der finanzielle Rückfluß bisher zu wünschen übrig. Die drei können trotzdem leben von der Musik. Torch hat die Fugees remixt, mit Africa Bambaata aufgenommen, und produziert vor allem Jungle in Miniauflagen für Londoner Clubs: „Das meiste sind Tausenderauflagen, und die verschwinden immer ziemlich schnell.“

Während das Geschäft für ihn zufriedenstellend läuft, legt Torch im Gespräch ständig Wert auf die neugewonnene „internationale Orientierung“ des Trios. Und gibt zu, daß sie auch aus einem Frust auf nationaler Ebene geboren ist: „HipHop hat in Deutschland immer noch keine Selbstverständlichkeit, obwohl er inzwischen längst einen Markt gefunden hat. Aber es gibt keine Bevölkerungsschicht in Deutschland, von der HipHop wirklich ausgeht, die ihn lebt. Anders als zum Beispiel in Brooklyn. So wie auch türkische Kultur keine Selbstverständlichkeit hier hat, auch wenn es Millionen Türken gibt. Der normale Deutsche weiß doch über die Türkei einen Scheiß, der weiß nichts über den Islam, und kein deutsches Kind kann ,hallo‘ auf türkisch sagen, es gibt auch keine türkischen Platten in deutschen Läden.“

Hierzulande haben sich andere mit ihren Ideen von HipHop durchgesetzt. Fettes Brot, deren „Nordisch by Nature“ stetig in den Charts klettert, die Fresh Familee oder Der Tobi & das Bo. Kontakt zur „Klasse von 95“ hat Torch nie gesucht: „Manche kenn' ich, manche nicht. Das ist eigentlich schon alles. Die Leute waren auch nie auf Jams. Und es gibt ja auch kaum noch Jams, die Zeit ist einfach um – für uns zumindest.“ Trotzig halten sie auf der Platte die alten Werte hoch, „Ich bin von der alten Schule“, beklagen sie den Verfall ihrer Vorstellung von HipHop, träumen von den Tagen, als noch Fußgängerzonen das Revier der Breakdancer waren, als Writer mit Scheinwerfern im Rücken flüchteten und kreuz und quer die Republik bereist wurde, um sich auf Jams legendäre Freestyle-battles zu liefern. „Falls du mich nicht siehst, heißt es nur, ich bin getarnt/ denn HipHop lebt im Untergrund, also sei gewarnt“, rappt Torch in „Kapitel 1“, und verspricht seine „Mission“, den HipHop, „gegen Gesetz, Bundesgrenzschutz und Sonderkommission“ durchzusetzen. Aber eigentlich hat Torch längst abgeschlossen mit dem Land, dessen Paß er besitzt, will nach draußen gehen und „nicht in Deutschland versauern“. London, New York, Los Angeles sind jetzt seine Anlaufpunkte. „Linguist ist die ganze Zeit in Sansibar, und was weiß ich wo“, erzählt Torch. Mitglied in der Zulu-Nation sind alle drei von Anbeginn.

Selbst die alte Feindschaft mit den Fantastischen Vier, vor drei Jahren ein gern ausgeschlachtetes Thema im Blätterwald, stellt sich inzwischen als halb so dramatisch heraus. Nach der ersten Euphorie über eine politisch relevante und dazu noch tanzbare Minderheitenstimme waren AC schnell abgestempelt als „Gedankenpolizei“, flogen auf Konzerten schon mal Flaschen, zerbrachen persönliche Beziehungen innerhalb der Szene. „Das ist banal zu glauben, daß wir den Leuten sagen könnten, was zu machen ist“, meint Torch heute. „Wenn ich die Macht hätte, würde ich sie vielleicht nutzen. Die Fan 4 sagen ihre Meinung, ich sage meine Meinung, wo ist das Problem? Ich kann mit Smudo [von den Fantastischen Vier, Anm. d. A.] immer noch eine Pizza essen gehen, auch wenn ich die Sachen, die er macht, beschissen finde.“

Es ist, wieder einmal, die Presse, die Torch für den Grabenkampf verantwortlich macht: „Man hat uns alle in einen Topf geschmissen. Man hat uns ins Gesicht gesagt, wir würden nur existieren, weil die Fan 4 da sind. Ich existiere, weil Kurtis Blow da war, oder weil KRS One da war. Also haben wir aufgezählt, wer unsere Vorfahren, unsere Vorbilder waren. Die Fantastischen Vier haben das ignoriert, die haben gesagt, Kurtis Blow kennen sie nicht, ist ihnen egal. Das ist der Unterschied. Wenn ich die Bravo lese, die schreiben gerade wieder, wir machen ,ähnlich sinnige Texte wie die Fantastischen Vier‘. Und wenn ich sowas lese, dann sage ich: Nein, ich finde, wir schreiben ganz andere Texte. Und da ist die Spaltung. Aber es gibt keinen Krieg. Es geht beim Rap ja gerade drum, daß man kein Blatt vor den Mund nimmt.“

Daß alles nicht so heiß gegessen wird, wie es in der Reimküche gekocht wurde, zeigte schon Cora E, als sie sich für Adidas auf Streetball-Werbekampagnen als musikalischer Pausenclown betätigte. Zwar machen die Heidelberger in Haltung und Text weiterhin keine Zugeständnisse an Zeitgeist und Gute-Laune-Rap, würden niemals das „Dschungelbuch“ samplen, aber souverän spielen sie auf „Advanced Chemistry“ mit Hardcore- Rap, Jazz und manchmal gar G-Funk-Elementen. Selbst die Reime fließen inzwischen eleganter, auch wenn eine gewisse Sperrigkeit weiterhin mit den Texten korrespondiert. Vollgepackt mit Informationen machen sie einen maßgeblichen Unterschied zur deutschen New School aus. „Geht das“, fragt sich Torch, „wenn Tobi & das Bo beim Freestyle Witze über Äthiopier machen? Die sagen, wir haben viel Geld ausgegeben für unser Video, wir hätten es auch genausogut nach Äthiopien schicken können. Damit habe ich einfach nichts zu tun. Nur weil die gleichen Beats von der gleichen Sample-CD runtergeholt sind? Wenn die Jungs mal fertig sind mit ihrem HipHop, dann werden sie Rechtsanwalt und wählen die CDU. Hier können sich sogar die Böhsen Onkelz hinstellen und sagen, sie sind gegen Rassismus und kriegen noch Anerkennung. Aber ich möchte meinen Kindern, wenn sie mich fragen, was hast du gemacht, als das Asylgesetz geändert wurde, nicht erzählen müssen, ich hätte eine lustige Perücke auf dem Kopf gehabt.“

Gerade mal ihre erste LP fertig, sind AC schon wieder das Auslaufmodell in einer Zeit, in der der P.C.-Joke den Yuppiewitz abgelöst hat. In Heidelberg gingen die Uhren schon immer anders. Mal schneller, im Moment wieder etwas langsamer. Die alten AC- Klassiker finden sich zwischen wenigen neuen Stücken auf der Platte, die so gar nicht zur Standortbestimmung der Entwicklung hierzulande werden will. Ob es Zwischenbilanz oder Vermächtnis der wichtigsten Crew aus der Aufbruchszeit des deutschen HipHop ist, wird die Zukunft zeigen. Und als hätte er schon vor drei Jahren, mitten in den hoffnungsvollen Tagen gewußt, wie die Entwicklung die drei Freunde überholen würde, rappte Linguist damals in „Heidelberg“ leicht resignierend: „Mit Wehmut blick' ich zurück auf ein schönes Stück Kindheit.“

Advanced Chemistry: Advanced Chemistry (360 Grad/ IRS)

Konzerte: 20. 10. Leipzig, 21. 10. Heidelberg, 28. 10. München