68er im Dienste der Diktatoren

Bei der Auseinandersetzung um die NS-Verbrechen kämpften sie noch bedingungslos auf der Seite der Opfer, bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts sind die Juristen der 68er-Generation auf die Seite der Täter gewechselt. Sie haben sich nicht nur von ihren früheren rechtsethischen Positionen verabschiedet, sondern die Logik ihrer einstigen Gegner übernommen  ■ Von Falco Werkentin

Über Nacht, vom 2. zum 3. Oktober 1990, ist meine Generation, gemeinhin „68er“ genannt, konservativ geworden. Wie einst die Altersgruppe unserer Eltern, argumentiert seit der Vereinigung nun das linke und linksliberale Spektrum der alten Bundesrepublik mit „gesicherten rechtlichen Besitzständen“, die es nicht zulassen würden, Träger und Täter eines diktatorischen Regimes zur Verantwortung zu ziehen, da diese sich doch nur an die Gesetze gehalten, nur ihre Pflicht erfüllt hätten. Endlich, so wird ein Aufatmen durch die Globke-Jahrgänge gehen, sind die Kinder zur Vernunft gekommen. „Die Bundesrepublik Deutschland darf sich über gesicherte Rechtspositionen des Verwaltungspersonals der ehemaligen DDR nicht mit völkerrechtlich flacher Argumentation hinwegsetzen. [...] Dem neuen Gesamtstaat ist die strafrechtliche Abrechnung mit den Sachwaltern der Staatsorganisation der DDR – und mögen sie aus westlicher Sicht noch so unerträgliche Entscheidungen getroffen haben – verwehrt.“ So formulierte es unlängst prototypisch ein linksliberaler Jurist der Alt- Bundesrepublik in der Neuen Justiz.

Im sicheren Bewußtsein guter linker Tradition, wie eh und je Partei zu ergreifen für die Unterdrückten und Beladenen, machen sich nunmehr alte politische Freunde zu Fürsprechern der neuen „Opfer“. Ob Erich Honecker oder Mielke, ob die einst mit politischen Strafverfahren betrauten Justizfunktionäre, ob die Zersetzungs- und Verhörexperten des MfS, die Todesschützen an der Mauer oder ihre Auftraggeber in Partei und Staat – nur wenige meiner Generation verweigern die Solidarität.

Erinnern wir uns. Was Peter- Alexis Albrecht in der Neuen Justiz so apodiktisch fordert, hat die alte Bundesrepublik in aller Konsequenz praktiziert. Die Rechtspositionen des Personals des ehemaligen NS-Staates wurden als gesicherte Ansprüche weitgehend anerkannt. Die politischen Gestalter der Bundesrepublik empfanden klare Pflichten gegenüber jenen, die der vergangenen Ordnung pflichtgemäß gedient hatten, auch wenn diese Pflichten in die Irre geführt hatten. Zudem sah sich die Bundesrepublik in der strafrechtlichen Abrechnung mit den Sachwaltern des NS-Staates weitgehend gehindert. Das Ergebnis: eine Unzahl ungesühnter Verbrechen und ein öffentlicher Dienst, in dem die Täter von einst in immer höhere berufliche und politische Positionen gelangten.

Einst war dies für uns das herausragende Motiv der Rebellion und des Mißtrauens in die demokratischen Versprechungen des bundesdeutschen Systems. Seit vor mehr als 30 Jahren Reinhard Strecker und andere in Karlsruhe die Ausstellung „Ungesühnte Nazi-Justiz“ eröffneten, schärften kritische Juristen ihren Intellekt in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Diktatur und dem geringen Willen der altbundesdeutschen Gesellschaft und Justiz, die Täter, die Auftraggeber, Ideologen und Profiteure spürbar zur Verantwortung zu ziehen. Teil des Konflikts war die Parteinahme für die Opfer. Übernahmen Anwälte meiner Generation in NS- Verfahren Mandate, so nur in Vertretung der Nebenkläger.

But times are changing. Nachdem seit der Vereinigung die von der Mehrheit der ersten und letzten frei gewählten Volkskammer gewollte Strafverfolgung von DDR-Staatskriminellen nicht mehr von Justizfunktionären des SED-Regimes hintertrieben werden konnte, sondern Richter und Staatsanwälte des neuen Gesamtstaates sich dieser Aufgabe zu stellen hatten, verabschiedeten viele linksliberale Juristen still die in 30 Jahren entwickelten Positionen. So fremd ihnen die Opfer der SED-Diktatur geblieben sind, so verständnisinnig wurde ihr Umgang mit den Tätern.

Zur urplötzlichen Vergänglichkeit alter Positionen korrespondiert die Frische, mit der jene Verteidigungsstrategien zur Minimierung persönlicher Verantwortung dem linken Milieu nunmehr präsent sind, gegen die bis 1989/90 gestritten wurde. Heute sind – der argumentativen Logik nach – Strafverteidiger wie Helmut Dix – er vertrat Friedrich Flick im Nürnberger Nachfolgeprozeß – oder Dr. Servatius, der 1961/62 Eichmann in Jerusalem verteidigte, zum anwaltlichen Leitbild geworden. Gelohnt hat sich die langjährige Fehde um den richtigen Umgang mit den Erblasten eines diktatorischen Regimes gleichwohl. Sie versetzt meine Generation in die Lage, „aus dem Stand heraus“ die politische Anwaltschaft im öffentlichen Streit und das praktische Mandat vor den Gerichten für die Stützen und Täter des SED-Regimes zu übernehmen. Es sind nur jene Erklärungen nachzuplappern, mit denen seit den Nürnberger Prozessen Staatskriminelle verteidigt werden.

Es schien uns einst eine selbstverständliche Forderung, daß die ideologischen Wortführer eines diktatorischen Regimes, die Exekutoren alltäglicher diktatorischer Herrschaft von einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst ausgeschlossen würden. Wir forderten für sie mithin Berufsverbote. Heute hingegen? Kaum kam es im Prozeß der personellen Erneuerung an ostdeutschen Institutionen zu Entlassungen aufgrund der inoffiziellen Mitarbeit für das MfS, der Beteiligung an politischen Disziplinierungen und Relegationen von Studenten usw., saßen meine Freunde in Solidaritätskomitees zur Unterstützung ehemaliger SED-Funktionseliten.

Es schien einst unerträglich, daß die Träger, Aktivisten und Mitläufer des Dritten Reiches aufgrund ihrer Tätigkeit in den Jahren der NS-Diktatur hohe Pensionen erhielten, während gegen die Opfer, ging es um Wiedergutmachung, ein Kleinkrieg geführt wurde. Ohne den Begriff selbst zu gebrauchen, hielten wir für die Systemträger der NS-Zeit eine Kappung von Renten und Pensionen für notwendig und Rechtens – heute Rentenstrafrecht genannt. Wem ist nicht die von der Witwe des Volksgerichtshof-Präsidenten Freisler erfolgreich eingeleitete Klage präsent, mit der sie in den fünfziger Jahren vor einem bayerischen Verwaltungsgericht eine Rentenerhöhung erstritt? Gleichermaßen intolerabel erschien es uns, daß durch Justizmorde belasteten Richtern der NS-Zeit, die nach 1945 wieder als Richter tätig waren, am 14. Juni 1961 vom Bundestag das Geschenk gemacht wurde, bei vollen Bezügen vorzeitig demissionieren zu können. Heute hingegen? Unter dem Begriff des Rentenstrafrechts streiten linksliberale Juristen gegen die bisher noch geltende Kappung der Renten ehemaliger Angehöriger des MfS und sonstiger Systemträger, deren politische Loyalität die SED nicht nur mit dem Mittel der ideologischen Erziehung, sondern gleichermaßen mit Sonderversorgungssystem und anderen materiellen Privilegien sich gesichert hatte. Wer Rentenerhöhungen für MfSler mit dem Argument gesicherter rechtlicher Besitzstände fordert, vergibt das moralische Recht, sich über bundesdeutsche Invalidenrenten für lettische SS-Veteranen zu erregen.

Noch unerträglicher wirkte auf uns, daß jedweder Blutrichter und Staatsanwalt freigesprochen wurde, da sie sich nur an das geltende Recht – und Rechtsverständnis – der NS-Zeit gehalten hätten. Mit Vehemenz widersprachen wir dem Wort, daß das, was gestern Recht war, heute nicht Unrecht sein könne – jene berühmte Aussage des ehemaligen Marine-Richters der NS-Zeit und späteren baden-württembergi-schen Ministerpräsidenten Filbinger. Heute hingegen heißt es: Zu warnen sei vor einer Siegerjustiz, deren Jurisdiktionsbefugnis höchst fragwürdig sei, da ein DDR-fremdes Rechtsverständnis angelegt würde oder werden müßte, um Handlungen zu ahnden, die zu Zeiten des SED- Regimes als system- und rechtskonform galten. Im Kern übernehmen die einst kritischen Juristen nun die Exkulpationsmuster der von Strafverfahren bedrohten NS- Richter, deren Argumentation wiederum vom BGH mit dem Ziel des Freispruches aufgenommen worden war. Je ideologisch verrannter oder karrierebewußter ein NS-Jurist sich dem „Rechtsverständnis“ des NS-Regimes beugte, um so sicherer konnte er nach 1945 sein, daß ihm seine Kollegen Rechtsblindheit als Schuldausschließungsgrund zubilligten. Da auch die DDR-Richter ideologisch verrannt waren, fehle ihnen gleichfalls der subjektive Tatbestand des Vorsatzes zur Rechtsbeugung – so die Logik der aktuellen Verteidigungslinie, sofern überhaupt Rechtsbeugung zugestanden wird, da doch angeklagte DDR-Juristen sich nur an das geltende Recht gehalten hätten. Selbst dies trifft zwar für eine Vielzahl von politischen Straf- und sonstigen Gerichtsverfahren in der ehemaligen DDR gerade nicht zu, doch so genau hinzuschauen wie bei der NS-Rechtssprechung ist für meine Generation noch nicht zum intellektuellen Gebot geworden.

Zum anderen reden viele Juristen der 68er-Generation plötzlich der Praxis das Wort, den Staatsverbrechern eines diktatorischen Regimes die Absolution zu erteilen, sofern sie nur darauf geachtet hatten, für sich und Mittäter vor der Tatausführung einen gesetzlichen Ablaßzettel zu schaffen. Bis 1990 schien Konsens zu herrschen, daß seit der NS-Diktatur und den Nürnberger Prozessen für diktatorische Regimes ein Rückwirkungsverbot nicht mehr gelten darf. Deutlich hat Thomas Blanke, der aus dem neuen Konsens unserer Generation ausschert, die Konsequenzen formuliert: „Erstreckte sich das Rückwirkungsverbot auch auf vergangene staatliche Unrechtssysteme, so würde sein normativer Gehalt verkehrt. In seinen Genuß kämen allein die politischen Systemverbrecher, die ihrerseits die Schranken des Rechtsstaates eingerissen haben. Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot degeneriert in dieser Lesart zum Privileg für Diktatoren und ihre Helfershelfer. Aus dem Schutz der Bürger vor den Wechselfällen politischer Machtspiele wird ein Schutz der Machthaber vor den Risiken des Machtverfalls.“ Heute ringen die meisten linksliberalen Juristen um die rechtliche Verbindlichkeit der gesetzlichen Ablaßzettel des SED- Regimes.

Wer von uns hätte bis 1990 je das gängige Argument akzeptiert, daß man im Dritten Reich doch nur seine Pflicht getan und nur Befehlen gehorcht habe. Heute hingegen fordert der Arbeitskreis sozialdemokratischer Juristen einen Gesetzentwurf zur begrenzten Straffreiheit für in der DDR begangenes Unrecht und erklärt zur Begründung u.a.: „Soweit strafbare Handlungen von Personen begangen wurden, die Angehörige des MfS waren, sind sie, weil sie auf Befehl handelten, strafrechtlich nur bei krassen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu machen.“ Nichts anderes sprach 1953 die Interessengemeinschaft ehemaliger Angehöriger der Gestapo. Gewiß, so war die Rechtsprechung, so mag sie auch heute sein. Doch war dies bis 1990 ein Grund, sie zu akzeptieren?

Verteidigten sich Gehilfen des NS-Regimes damit, daß Verweigerung zwecklos gewesen sei, da jeder austauschbar gewesen wäre, so wird darauf verwiesen, daß selbst Göring es nicht unterlassen hatte, sich 1945 u.a. mit den Worten zu rechtfertigen: „Nehmen wir an, ich wäre zurückgetreten. [...] Glauben Sie, das hätte was verändert?“

Geht es um die Verteidigung eines 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung, der seit den 50er Jahren immer in führenden Positionen das SED-System mitgestrickt und gefestigt hat, so ist alle intellektuelle Scham vorbei. Unter Anknüpfung an die Rechtfertigungen altbundesdeutscher Gerichte bei der Schuldfreisprechung von NS-Tätern wird nun für Heinrich Hannover die strenge Disziplin in hierarchischen Organisationen herangezogen, um die von Modrow durchgestellten Wahlfälschungen im Frühjahr 1989 zu verteidigen: „Und auch die altbundesdeutsche Rechtsprechung und Literatur hat zur Möglichkeit des Widerstandes im Rahmen militärähnlicher Disziplinverhältnisse bei Gelegenheit der NS-Prozesse einige Überlegungen angestellt, die ich bei Durchsicht der bisher ergangenen Urteile in Wahlfälschungssachen und im Plädoyer der Staatsanwaltschaft durchaus vermisse.

Vor allem ist an die ,Opposition des Ja-Aber‘ zu denken, die Hans Buchheim als ,charakteristisch für das Leben unter totalitärer Herrschaft überhaupt‘ bezeichnet. [...] Parteidisziplin war offenbar ein Prinzip, das über die Grenzen der Parteimitgliedschaft hinaus die Verfassungswirklichkeit in der DDR bestimmte [...].“

Unstrittig, es gibt strukturelle Analogien in der Herrschaftsorganisation des SED- und des NS-Systems, das zentrale Thema des Totalitarismus-Konzepts. Überraschend nur, daß dieser Theorie nunmehr von einer Seite Tribut gezollt wird, die sie bis dato ablehnte. Bis 1989 ließen wir die Rechtfertigung „Ich war's nicht, Adolf Hitler ist's gewesen“ als Schuldausschließungsgrund nicht gelten. Jetzt aber soll zählen: „Ich war's nicht, Erich Honecker ist's gewesen“?

Im Krefelder Thälmann-Mord- Prozeß klang es von Hannover noch so: „Eichmann ist ein Musterbeispiel für diesen ganz neuen Verbrechertyp, dessen Tat nicht darin bestand, anderen Menschen mit eigener Hand die Schlinge um den Hals zu legen oder die tödliche Kugel in den Körper zu schießen, sondern der in der Hierarchie des bürokratisch organisierten Massenmordes eine Funktion ausübte, bei der er sich – im wörtlichen Sinne – die Hände nicht schmutzig zu machen brauchte. [...] Sollten wir die mit der NS-Kriminalität in die Welt getretene Figur des Schreibtischmörders auf irgendeiner beliebigen Ebene der Befehlshierarchie vergessen dürfen?“

Einst gab es von unserer Seite keine Einwände, NS-Verbrecher strafrechtlich zu verfolgen, obwohl rationale Strafzwecke wie Spezial- und Generalprävention nach der Niederlage der NS-Diktatur nicht mehr zur Begründung heranzuziehen waren, da die Verbrechen, um die es ging, an Funktionen in einem spezifischen Staatsgebilde gebunden waren. Niemand hätte anläßlich des Eichmann-Prozesses in Jerusalem 1961/62 argumentiert, daß dieser Mann seit 1945 ein sozial angepaßtes Leben geführt habe, da mit der Niederlage des NS-Systems die strukturellen Voraussetzungen seiner Verbrechen entfallen seien, es mithin weder aus spezialpräventiven noch aus generalpräventiven Gründen zu vertreten sei, ihn abzuurteilen. Geht es um die strafrechtliche Ahndung von DDR-Staatskriminalität, so werden heute Strafzwecke mit dem Ergebnis durchdekliniert, daß weder Spezial- noch Generalprävention greife, ergo Strafe sinnlos sei respektive nur einem diene – der Befriedigung von Rachebedürfnissen und Siegerjustiz.

Um diese Apologie in rechtlicher Verkleidung zu unterfüttern, kommt man urplötzlich zu neuen Beurteilungen des Umgangs mit der NS-Erblast. Es habe sich doch am Beispiel der alten Bundesrepublik gezeigt, predigen seit 1990 viele alte Gefährten, daß mit den Mitteln des Strafrechts Verbrechen in totalitären Regimen nicht aufzuarbeiten seien. Gebieterisch sei zu raten, das Strafrecht äußerst zurückhaltend anzuwenden. Bis 1989/90 war unsere Analyse, daß es vorderhand am politischen Willen der altbundesdeutschen Gesellschaft und ihres Rechtsstabes gemangelt hatte, NS-Täter in angemessener Weise zur Verantwortung zu ziehen. Nun wird das Versagen der Alt-Bundesrepublik zum Argument, die schlechte Praxis der Vergangenheit fortzusetzen. Damit nicht genug. Flankierend wird über Nacht die historische Weisheit der Politik der Adenauer-Ära mit ihrer konsequenten Integration von Parteigängern, Profiteuren, Mitläufern und Tätern der NS-Zeit entdeckt. Sie sei ein konstitutiver Beitrag zur Festigung der Demokratie der Bundesrepublik gewesen, lassen uns nun Uwe Wesel und Egon Bahr wissen. Woran sie sich nicht mehr zu erinnern scheinen – freilich schwer verständlich bei einem Hochschullehrer wie Uwe Wesel, der immer hautnah meine Generation beobachtend begleitete –, war die desintegrative Seite dieser Politik. Sie führte dazu, daß große Teile meiner Generation in der DDR den „besseren, weil konsequent antifaschistischen Teil Nachkriegsdeutschlands“ sahen. Bei einigen ging die Desintegration so weit, daß sie zum politischen Mord – und schließlich Selbstmord – schritten, um im bewaffneten Kampf der „präfaschistischen Bundesrepublik“ die Maske vom Gesicht zu reißen.

Die Beobachtungen ergeben ein klares Profil. Betrifft es das NS-Regime, so zeigt sich eine eindeutige Parteinahme für die Opfer, mit der konsequent die Position korrespondiert, Täter und Träger dieser Diktatur nicht aus der persönlichen und strafrechtlichen Verantwortung zu entlassen. Geht es hingegen um das SED-Regime, so wird seitenverkehrt die Verständnisinnigkeit für Nachwendebeschwernisse ehemaliger Täter deutlich, deren persönliche Verantwortung wortgewaltig wegargumentiert wird. Die Opfer der SED-Diktatur werden bestenfalls als blindwütig-lächerliche Racheengel wahrgenommen, denen mühselig ihre Naivität auszutreiben ist, bevor ihnen die Grundbegriffe von Rechtsstaatlichkeit und das moderne, plurale Konzept von Gerechtigkeit beigebracht werden kann. So spiegelt sich im gegenwärtigen Streit um den politisch angemessenen Umgang mit DDR- Erblasten das alte Vor-89er-Verhältnis des linken und linksliberalen Milieus zur DDR wider. Der Zerfall des SED-Regimes ist offenbar für die Mehrheit des linken/ linksliberalen Milieus kaum zur Chance geworden, alte Positionen neu zu überdenken. Die gern reklamierte menschenrechtliche Parteilichkeit wird überdeckt von der Lagerorientierung. Daß man sich hier nur spiegelbildlich zur konservativen Seite verhält, macht es nicht besser.

Wird vom „Unrechtsstaat“ DDR gesprochen, so steigert sich der intellektuelle Eifer in besonderer Weise, scheint es doch nur einen Maßstab zu geben – die NS- Zeit. Was bedeuten schon über 800 Menschen, die an den Grenzen der DDR bei Fluchtversuchen ums Leben kamen, gemessen an der Opferdimension nationalsozialistischer Tötungsfabriken? Welche Lappalie sind 80 oder 100 politisch motivierte Todesurteile, die das Politbüro der SED anwies und die von den Justizfunktionären im Richterkostüm offizialisiert wurden, gemessen an der Spruchpraxis des Volksgerichtshofes? Was sind schon zweieinhalb Millionen Menschen, die bis zum Bau der Mauer „freiwillig“ ihre Heimat verließen, was sind schon 35.000 Häftlinge, die seit 1964 wie Stahl aus Eisenhüttenstadt verkauft wurden, gemessen an den mörderischen Zwangsvertreibungen des NS-Regimes? Ohne Zweifel: die Wahlfälschungen, die Modrow 1989 wie zuvor durchgestellt hatte, sind im Vergleich zum NS-Euthanasiepro- gramm niedlich. Das SED-Regime war unbestritten weit entfernt vom blutigen Terror des NS-Regimes. Zudem hatte in der ersten Phase der Festigung der SED-Herrschaft überwiegend das NKWD den Terror übernommen. Doch bedarf es erst neunstelliger Todesziffern, bevor meine Generation auf Distanz geht zu den Handwerkern politischen Terrors oder zu jenen, die diese Praxis als Intellektuelle rechtfertigten?

Oder ist meine Generation altersklug geworden, hat uns das Leben gelehrt, die moralische Rigidität der Jugend aufzugeben? Ist es an dem, so verlangt intellektuelle Redlichkeit, dies öffentlich zu machen und in die Geste des Verständnisses auch ehemalige NS- Ideologen und -Täter einzubeziehen. Die in 30 Jahren des Streits gegen den Umgang der alten Bundesrepublik mit NS-Ideologen und -Tätern entwickelten Kriterien persönlicher Verantwortung über Nacht sprachlos zu verabschieden, weckt den Verdacht betonköpfiger Lagerparteilichkeit. Preisgegeben wird eine Position, die die Gegenwart gleichermaßen vonnöten hat, wie die unsägliche gesamtdeutsche Vergangenheit ihrer bedurft hätte. Denn was an Unvorstellbarem geschah, verweist auf künftige Möglichkeiten. Der Arbeitsstil moderner Bürokratien, die in ihnen zum System gewordene arbeitsteilige Verantwortungslosigkeit, ist strukturell eine Gemeinsamkeit aller modernen Staatsgebilde – der konstitutionell wie der diktatorisch verfaßten Staaten. Verbrechen aus Gehorsam, bemäntelt mit dem Argument der Staatsräson, sind kein exklusives Phänomen diktatorischer Regimes. Erinnert sei an das My-Lai-Massaker amerikanischer Soldaten im Vietnamkrieg oder an den Mord französischer Geheimdienstagenten an Greenpeace- Aktivisten im Neuseeland des Jahres 1985.

Zwar enthalten gewaltengeteilte Systeme wichtige strukturelle Sicherungen. Doch die infame Logik moderner Bürokratien, vor Jahren von Günter Anders auf den Begriff gebracht, kennt keine Systemgrenzen: „Dazu kommt, daß, wenn eine Organisation funktioniert, die Idee der Moralität einer Handlung automatisch durch die Glätte der Funktion ersetzt wird. Ist die Organisation eines Unternehmens ,in Ordnung‘ und sauber im Gang, dann scheint auch dessen Leitung selbst in Ordnung und sauber.“ In einer Welt, in der über alle Systemgrenzen hinweg Konformismus die dominierende, bürokratisch anerzogene und durchgesetzte Haltung ist, bleibt der Streit für das Prinzip persönlicher Verantwortlichkeit unerläßlich.

Der Autor ist stellvertretender Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Berlin. Er forschte über DDR-Unrecht und schrieb unter anderem über „Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht“.