■ Die Stromwirtschaft kämpft um das Symbol Obrigheim: Simulierte Wirklichkeit
Alle Fachleute werden es weit von sich weisen. Und doch weiß keiner von ihnen, was wirklich passiert, wenn es passiert. Hält die Schweißnaht, oder hält sie nicht? Man läßt kräftig rechnen und simulieren. Aber die Simulation von Wirklichkeit bildet Wirklichkeit nicht ab, sie versucht sich ihr anzunähern.
Wie trifft das Notkühlwasser auf die Reaktorwand? Wie verhalten sich die realen Risse und Fertigungsfehler in der Schweißnaht? Wie spröde ist diese Naht tatsächlich, deren Zusammensetzung nur näherungsweise bekannt ist? Welche mechanischen Belastungen treten wirklich bei einem Unfall auf? All diese Dinge lassen sich rechnen. Auch seriös. Und wenn zwischen simulierter Störfallrealität und simulierter „Sprödbruchübergangstemperatur“ eine Lücke von 100 oder mehr Grad Celsius klafft, wie am Anfang eines Reaktorlebens, dann hat das etwas Beruhigendes – nicht nur für Reaktorfans. In Obrigheim trifft das nicht zu. Unterschiedliche Methoden führen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Und selbst nach den Berechnungen jener, die jetzt das Wiederanfahren des Reaktorfossils verlangen oder zulassen wollen, beträgt der in Celsius ermittelte Abstand vom Super-GAU zwischen 15 und 45 Grad. Das verlangt etwas viel Zutrauen – in dubio pro nucleo.
Die Atomwirtschaft kämpft für das Überleben des Reaktorfossils am Neckar mit verdächtiger Verbissenheit. Ein halbes Dutzend Gutachten wird organisiert. Das alles, obwohl alle Beteiligten wissen, daß die Tage des ältesten kommerziellen Meilers in Deutschland nach 27 Jahren ohnehin gezählt sind. Tatsächlich gilt Obrigheim als Symbol. Als Symbol für die Zuverlässigkeit alternder Reaktoren. Oder das Gegenteil. Wenn dieser Meiler scheitert, weil der Super-GAU mit zunehmendem Alter immer wahrscheinlicher wird, dann wird die Diskussion über Stade wieder lauter und die über Biblis und so weiter.
Exakt vor zwei Wochen schlug die „Gesellschaft für Reaktorsicherheit“ Alarm: „Die Kenntnis des Versprödungszustands der kritischen Schweißnaht beruht weitgehend auf ungesicherten Daten und theoretischen Ansätzen.“ Deshalb gebe es „schwerwiegende Bedenken“ gegen die Wiederinbetriebnahme des Reaktors. So ist es. Nur leider: Die Klage galt dem bulgarischen Atomkraftwerk Kosloduj. Gerd Rosenkranz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen