Dialektik des Butterbrotes

■ Sichere Proviantprognose zum Wochenende - auf zur Jause im Stau

„Da müssen wir wohl doch zweimal gehen“, kommentiert Tonia die Berge von Tüten und Täschchen, die es treppab ins Auto zu bugsieren gilt. „Ach Quatsch“, kontert Lebenspartnerin Evelyn wie üblich, „das schaffen wir doch mit einem Gang.“

Die beiden Frauen behängen sich mit dem Krempel und schleppen selbigen ächzend zum Fahrzeug. Vorbei an der Nachbarin, die natürlich alles mitkriegt: „Was habt ihr bloß wieder alles eingepackt, ihr seid doch nur ein Wochenende weg?“ Na ja, man achtet halt nicht so drauf, wenn man mit dem Auto unterwegs ist. Ist doch egal, ob ein oder drei Paar Schuhe, ob Jacke und Mantel und vielleicht noch das eigene Bett. Und überhaupt, die Hälfte des Gepäcks besteht aus Proviant für die Fahrt und wird folglich auf dem Rückweg nicht mehr existieren.

Das ist eine Selbstlüge, wissen Tonia und Evelyn. Retour wird die Kutsche genauso beladen sein. Denn zu essen muß mit, das ist wie ein Zwang. Könnte ja sein, daß die Raststätte geschlossen ist, oder die Einfahrt vom Unfall versperrt. Könnte auch sein, daß die Karre in der Pampa verreckt. Und dann? Da kommt doch kein Trecker mal eben vorbei und hält ein Stück Streußelkuchen feil. Da stehst du dann, und es wird immer dunkler, und du hast Hunger, das muß doch nicht sein!

Tonia und Evelyn sind auf all das bestens vorbereitet, denn sie sind erblich vorbelastet. Als Flüchtlingskinder nehmen sie mit, was das Zeug hält: Hartgekochte Eier, ein Biobrot, Butter, ein ordentliches Stück Käse, mehrere Stücke Obst, Mineralwasser, was zum Knabbern und natürlich zwei Thermoskannen Kaffee. Bei längeren Fahrten wird das Notpaket um den selbstgemachten Kartoffelsalat und Frikadellen erweitert. Dann sind aber auch Gabel, Teller und Tischdecke obligatorisch.

Sie lachen? Dafür gibt es gar keinen Grund. Denn tatsächlich ist es ein tief beglückendes Unterfangen, an einer Raststätte die langen Warteschlangen vor ölverpesteten Pommesbottichen links liegen zu lassen, um im abgeschiedenen Grün nach Herzenslust Gutes aus eigenem Hause zu mampfen. Da wird selbst der Stau zur Jause. Köstlich das Bad im Neid der Anderen, köstlich das Gefühl, auf nichts und niemanden angewiesen zu sein. Das macht Freude, und beinahe automatisch erninnert man sich der Klassenfahrten, bei denen das erste Ei schon gepellt war, kaum daß sich zischend die Bustür geschlossen hatte.

Damals wollten die Eltern Geld sparen. Sicher, das spielt auch heute eine Rolle. Für ein pappiges Brötchen fünf Mark und mehr zahlen zu sollen, kann nur als Provokation bezeichnet werden. Doch das ist für Evelyn und Tonia nicht ausschlaggebend. Ausschlaggebend ist tatsächlich dieses Gefühl von Freiheit auf der Landstraße. Daß damit auch ein gewisser Zwang verbunden ist, merken die beiden spätestens dann, wenn sie in einem kleinen Örtchen an einer Bäckerei vorbeikommen, aus der es wundervoll riecht. Da können dann die eigenen Vorräte, leicht schmierig oder gar ausgetrocknet von der Autoheizung, zur richtigen Qual werden.

Aber so ist das nun mal mit der Dialektik der Freiheit. Sie hat zwei Seiten wie ein Butterbrot, und die belegt man am besten doppelt. dah