Tugend hat jetzt einen Namen: Wickert!

Endlich! Der neue Katechismus ist da: „Das Buch der Tugenden“ von Ulrich Wickert  ■ Von Georg Behrend und André Mielke

Und wieder hat Ulrich Wickert ein Buch vorgelegt, „Ulrich Wickert – Das Buch der Tugenden“. Es ist 735 Seiten stark, 48 Mark teuer und vollständig von Ulrich Wickert, denn es beinhaltet weit über fünf Prozent (= 46 Seiten) Originalulrichwickert. Anders ausgedrückt: Wickerts Moralkodex wiegt handgestoppte 1.021 Gramm, bringt also weit mehr als 50 Gramm (51 Gramm) Ulrich Wickert auf die Waage. Das sind mehr als zweieinhalb Standardbriefe (Inland). Mit Kuvert! Voilà! Dieser Sachverhalt erfüllt nicht nur die Überschrift von Kapitel 7 („Mut, Tapferkeit und Zivilcourage“), sondern erst recht die von 8 und 10 („Toleranz“ bzw. „Demut und Bescheidenheit, Fleiß und Geduld“) mit ziemlich viel Leben.

Daß die restlichen knapp 700 Seiten nicht vom Meister des „stilistisch geschliffenen, stets mit Ironie gespickten Texts“ (Klappentext) stammen, ist keinesfalls mangelnder Kreativität des „beliebtesten Nachrichtenmannes des deutschen Fernsehens“ (Klappentext), des „dritterotischsten deutschen Mannes“ (Forsa) geschuldet, nein, diese unwesentliche Einschränkung ist folgerichtiges Ergebnis seiner bisweilen an Selbstverleugnung grenzenden „Bescheidenheit“ (Goethe über Wickert), seines unstillbaren Dranges, tatendurstigen Talenten den steinigen Weg auf die Gipfel von „Philosophie und Literatur“ (Klappentext) zu bereiten.

Daß Wickerts Verlag Hoffmann und Campe den großen Moralisten darin nach Kräften unterstützt, kann gar nicht genug gewürdigt werden: Das Unternehmen bestand entgegen aller formalen Logik darauf, einzig den Namen „Ulrich Wickert“ in wild entschlossener 72-p-Schriftgröße auf den Schutzumschlag zu schmettern, obwohl es zehnmal weniger hätte verdienen können, wenn daneben beispielsweise „Francis Bacon“ oder „Pablo Neruda“ gleichberechtigt aufgeführt worden wäre. Außerdem hätten die gar nicht alle raufgepaßt. Spätestens jetzt werden kleinliche Neider aufschreien. „Etikettenschwindel!“ werden sie tönen. Diesem billigen Vorwurf ist entschieden entgegenzuhalten: Wo wären denn Alphabeten wie „Brüder Grimm“, „Martin Luther“ oder „Voltaire“ abgeblieben, hätte sich nicht ein Denker von Geltung, ein Mann aus dem Fernseher (!) ihrer angenommen und ihre frühen Etüden mit dem Glanze seines Namens veredelt? Wie sonst sollten es die größtenteils unausgegorenen Eskapaden von Nobodys wie „Novalis“, „Immanuel Kant“ oder „altchinesische Staatsweisheit“ jemals auf eine Startauflage von 100.000 Stück bringen, he?!

Wenn schon heute, gut einen Monat nach Erscheinen vom „Buch der Tugenden“, Namen wie „Platon“ (siehe den gleichnamigen Historienfilm von Oliver Stone), „Erich Kästner“ oder selbst der kautzige „Arthur Schopenhauer“ in aller Hausfrauen Munde sind, so ist das unbedingt ein Verdienst Ulrich Wickerts. Eine Sicht, die seine Verleger uneingeschränkt teilen: „Nach einleitenden Erläuterungen [...] stellt Ulrich Wickert einschlägige Texte [...] vor. Von Aristoteles und Nietzsche bis Habermas und Tugendhat; von Aesop über Lessing, Goethe, Schiller, Büchner, Fontane zu Thomas Mann, Bertolt Brecht, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Günter Grass bis zu internationalen Autoren wie Orwell, Camus und Doris Lessing spannt sich der Bogen. All diese Äußerungen spiegeln Facetten der Inhalte und Wirkungen von Tugenden wider. Wickert ermuntert zum Nachdenken über das Handeln des einzelnen in der Gemeinschaft.“ Dieser Hauch von Glasnost („Friedrich Schiller, präsentiert von Ulrich Wickert, Krombach und Obi“) kann den Abkauf der Enzyklopädie kaum gefährden, denn selbiges erfährt nur, wer die um den Band geschweißte Plastikfolie noch vor dem Erwerb entfernt, das Buch aufklappt und, jetzt kommt's, doch anfängt, darin zu lesen. Aber wer tut das schon, wenn es sich um ein Buch von Ulrich Wickert handelt? Das gibt der Zahnarzt seiner Familie. Unbesehen.

Doch – Kenner des Wickert- ×uvres werden es wissen – „Das Buch der Tugenden“ ist nicht das erste Beispiel tätiger Solidarität, die der frankophile Connaisseur den Kranken und Schwachen angedeihen läßt. Als „Nachrichtenmann“ sind Wickert Leiden und Elend der Nachrichtenmacher, das Schicksal der ewigen Agenturjournalisten bestens vertraut, die unter ihrer Anonymität genauso leiden wie unter der allzu kurzen Halbwertszeit ihrer Hervorbringungen (sog. Nachrichten). Ulrich Wickert sah, daß da Not war, und er hob an, sie zu lindern. Er schuf das Opus magnum der Postmoderne, ein gewaltiges Konvolut namens „Ulrich Wickert – Das Wetter“, in dem die Kollegen von dpa, Reuter und AP einige Meldungen wiederfanden, die sie einst geschrieben und denen Ulrich Wickert ein Stückchen Ewigkeit geschenkt hatte. Doch von diesem Mann, der als lebensgroßer Pappkamerad derzeit in zahlreichen Auslagen auf einem Stapel Tugendbüchern kauert, aber gewiß nicht darauf sitzenbleibt, von diesem Mann dürfen wir noch sehr viel mehr erwarten.

Wer zählt die Schöpfungen abendländischer Kultur, denen bislang der gebührende Platz in Buchhandlungen und Bibliotheken vorenthalten wird, Arbeiten, die allein Ulrich Wickert aus dem Schatten dubioser Gemischtwarenhandlungen ins gleißende Licht unserer Christbäume ziehen kann?! Arbeiten wie die edlen Toilettenpapiere der Firma Hakle, vom gemeinen Volk oftmals genauso mit spitzen Finger angefaßt wie dazumal jene von Äsop oder Robert Musil – bis eben Wickert sie entdeckte. „Da es keinen vollständigen Katalog der Tugenden gibt, lassen sich noch viele finden, die in diesem Band gar nicht aufgeführt sind“, macht der Meister, der längst Teil2 in Arbeit hat, uns Mut. Arbeitstitel: „Wickert feucht“.