Kein Fall für den Reißwolf

In Hamburg sollen Akten über die Schwulenverfolgung der Nazis vernichtet werden. Damit wäre eine einmalige Quelle der Forschung verloren  ■ Von Jan Feddersen

Der Angeklagte war geständig, er versuchte gar nicht erst, die Vorwürfe abzustreiten. Er habe sich mit Männern im Volkspark getroffen, um dort mit ihnen Sex zu haben. Den Beamten gestand er, es mit dem Inhaber eines Damenmodeateliers in der Großen Theaterstraße getrieben zu haben. Einen anderen Mann liebe er sogar, hob er hervor. Das Hamburger Amtsgericht verurteilte ihn am 25. August 1936 nach dem erst ein Jahr zuvor verschärften Paragraphen 175 zu einer Gefängnisstrafe von achtzehn Monaten.

In der Begründung des Schnellschöffengerichts heißt es: „So ekelhaft es einen Normaldenkenden berührt, daß J. sein Verhältnis (...) als ,Liebe‘ bezeichnete, so muß doch ein derartiges Verhältnis (...) als weniger strafwürdig angesehen werden, als wenn ein Mann wahllos mit verschiedenen Strichjungen sich einläßt.“

Das Urteil steht nachzulesen in einer der etwa 2.500 im Mustergau Hamburg angelegten Akten zum Paragraphen 175, Bestandteil eines bundesweit in seiner Vollständigkeit einmaligen Aktenbestandes zur NS-Justiz, der auf den Böden des Hamburger Strafjustizgebäudes 50 Jahre lang unbemerkt lagerte. Genauere Zahlen über die noch zu erkundenden Akten gibt es freilich nicht.

Das Hamburger Staatsarchiv hat längst damit begonnen, jenen Fundus auszudünnen. Zwar heißt es in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Grün- Alternativen über die Hege der Akten, daß „ein politischer Einschlag“ der Fälle immer dazu führe, die Dokumente aufzubewahren. Ist jedoch zum Beispiel „einem Homosexuellen ein Diebstahl zur Last gelegt worden und wiesen Gang des Verfahrens und Sanktion keine Besonderheiten auf, wird man den politischen Einschlag verneinen müssen“. Daß schon das Wissen der damaligen Behörden über die Homosexualität des Verdächtigen mindestens Fragen aufwerfen müßte, wird ausgeblendet.

Womöglich hängt die mangelnde Sorgfalt damit zusammen, daß in der gängigen NS-Forschung Homosexuelle erst ins Blickfeld geraten, wenn sie als Opfer des Rosa Winkels kenntlich werden – also als Insassen von Konzentrationslagern, die wegen ihrer nicht fortpflanzungsorientierten Sexualität – in den Worten Heinrich Himmlers: „bevölkerungspolitische Blindgänger“ – eingesperrt, in den meisten Fällen auch ermordet wurden.

Die Rolle der Justiz, die gerade von 1935 an – als die Nazis den Paragraphen 175 von „Unzucht“ zur „widernatürlichen Unzucht“ und damit zur reinen Willkürvorschrift verschärften – Männer wegen ihrer Homosexualität verurteilte, wird dabei verschwiegen, ebenso wie die der Polizei, der Gestapo oder anderer Institutionen der NS-Zeit: Die Verfolgung Homosexueller im grauen Nazialltag war bislang kein Thema der etablierten NS-Forschung. Die Ächtung des Homosexuellen durch die braunen Machthaber gilt nicht als politisch.

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Paragraph 175 in seiner Nazifassung bestehen. Kein Wunder: Man fand ihn dem „gesunden Volksempfinden“ angemessen. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte in den fünfziger Jahren, daß Verfolgung wegen Homosexualität allein noch kein Grund zur Entschädigung sei – von einer moralischen Rehabilitation ganz zu schweigen. Mehr noch: Homosexualität war in jeder Hinsicht strikt verboten.

Erst 1969 wurde dieses Verdikt aufgehoben, doch keineswegs als Geste der Sühne, sondern – so die Diskussion in den sechziger Jahren – um die Zuständigkeit für dieses abweichende Verhalten aus den Händen der Justiz in die der Medizin und Psychologie zu legen.

Auch vor diesem Hintergrund ist der Hamburger Aktenberg interessant. Skizzieren ließe sich nicht nur die Art und Weise der Verhöre, sondern auch wie die nationalsozialistischen Institutionen mit schwulen Männern umgingen. Die akribisch geführten Vernehmungs- und Verhandlungsprotokolle nach Verhaftungen in Parks oder bei Razzien auf öffentlichen Bedürfnisanstalten bieten reiches Material. Darüber hinaus gäbe eine wissenschaftliche Sichtung Aufschluß über den Alltag Homosexueller in Hamburg. Wie ließ es sich leben, wenn man ständig bedroht war, nach Denunziation durch Nachbarn oder ehemalige Liebschaften polizeilich verfolgt zu werden?

Seit 1987 sortiert und katalogisiert eine Arbeitsgruppe der Hamburger Justizbehörde den insgesamt 100.000 Fälle umfassenden Bestand an Sondergerichts-, Land- und Amtsgerichtsakten, der in einzelnen Jahrgängen über 90 Prozent der gesamten Justizakten der Zeit repräsentiert. Nach und nach sollen die Akten in das Hamburger Staatsarchiv überführt werden. Bis heute wurden von 72.100 bewerteten Akten nur 13.600 als bewahrenswert eingeschätzt. Der Leiter des Hamburger Staatsarchivs, Hans-Dieter Loose, hält die Angst, Wichtiges könne verlorengehen, für unbegründet: „Homosexuelle gehören wie Juden und Sinti zu den Opfern des Nationalsozialismus. Diese Fälle erhalten wir komplett.“

Dieser Darstellung widerspricht der Jurist Klaus Bästlein. Nach seinen Angaben wurden zwar bis vor anderthalb Jahren die Landgerichtsfälle zum Paragraphen 175 vollständig erhalten, bei den Akten des Amtsgerichts hingegen wurde nur eine von drei Akten für archivwürdig befunden. Bästlein muß es wissen: Er leitete bis zum Frühjahr 1994 die Arbeitsgruppe, die die Archivierung des Aktenbestandes vorbereitete.

Nur „Bagatellfälle“, versichert Bästlein, würden aussortiert. Doch gerade sie könnten Aufschlüsse über das Leben unter nationalsozialistischen Vorzeichen geben – über den Alltag. Genau hier liegt auch das Interesse von Sexualwissenschaftlern und Historikern wie Rüdiger Lautmann, Martin Dannecker, Hans-Georg Stümke oder Volkmar Sigusch, deren Appelle, den Aktenbestand einsehen und für die sozialhistorische Forschung nutzen zu können, bislang ungehört blieben. Anders als im Falle von Juden oder Roma gibt es bis dato keine umfassenden Studien zum gewöhnlichen Alltag gewöhnlicher Homosexueller unter dem Hakenkreuz: Gab es Lokale? Wie schützte man sich vor Razzien? Gab es Solidarität untereinander? Oder Denunziatonen? Oder auch: Welche Richter taten sich besonders hervor, pikante Details zu erfragen? Wessen Urteile fielen drakonisch aus, wer hingegen ließ ab und an Milde walten?

Vielleicht rühren diese Fragen auch an ein Tabu der westdeutschen Erfolgsgeschichte nach dem 8. Mai 1945: Über die Rechtsprechung gegen Homosexuelle durch die NS-Justiz zu reden hieße zugleich, über die juristische Verfolgung Schwuler durch die Nachkriegsbehörden bis 1969 nicht schweigen zu können. Bekanntlich sind nur wenige Homosexuelle, die in Konzentrationslagern den Rosa Winkel tragen mußten, entschädigt worden.

Bezeichnend, daß aus den USA um Aufklärung gebeten wird. Am Holocaust Memorial Center in Washington hat man jüngst begonnen, nach schwulen Überlebenden des Nationalsozialismus zu suchen: Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik haben sich für eine solche grundlegende Aufarbeitung des Alltags Homosexueller noch nicht interessiert – von Ausnahmen wie dem Bremer Sozialwissenschaftler Rüdiger Lautmann einmal abgesehen.

Von den 50.000 Männern, die in der Bundesrepublik nach dem Paragraphen 175 verurteilt wurden, ist noch niemand – weder moralisch noch materiell – rehabilitiert worden. Peter von Rönn, Mitarbeiter der Abteilung Sexualforschung an der Hamburger Universitätsklinik, geht es auch darum: „Wir hoffen, daß wenigstens mit den Akten aus den fünfziger Jahren sensibler umgegangen wird.“