Postkarten von zu Hause

Schnappschüsse auf dem Platz des Himmlischen Friedens – zu Besuch beim Filmfest in Vancouver  ■ Von Mariam Niroumand

Die Weltgegend kennt man in der Regel eher durch Seattle, eine halbe Stunde entfernt und ungleich berühmter: für Hipness, für Grunge, für Kurt. Menschen aus Vancouver berichten einem aber inzwischen froh, daß die Seattlelites in Scharen über die Grenze zu ihnen kommen, um der Gentrifikation zu Hause zu entfliehen. Wo man aber dann von hier aus noch hingehen könnte, weiß niemand mehr. Lau weht es vom Pazifik herüber, seltsam silberblaue Berge schauen einen an, und zugleich spürt man, wie es weiter nördlich unerbittlich in die Kälte hinaufzieht. Man ist am Tellerand angelangt. Vielleicht ist das der Grund dafür, daß ich noch nie ein Filmfestival erlebt habe, bei dem dermaßen viel gegessen wurde wie hier.

Zum 14. Internationalen Vancouver Filmfestival, das jedes Jahr Anfang bis Mitte Oktober stattfindet, erscheint täglich eine ganze Zeitung (nicht kommerziell), in der ausschließlich Restaurants besprochen oder die Bedeutung vom Essen im Film („Grüne Tomaten“) erläutert werden. Es sind handgemalte Karten beigefügt, als befinde man sich auf einem survival trail. Die Tatsache, daß an allen Verkehrknotenpunkten zwölfjährige Pfadfinder stehen, die einem gegen Abgabe von einem kanadischen Dollar gesund lächelnd einen Apfel schenken, macht es nicht besser. Nicht ohne meinen Brownie! Ins Dunkel einer Filmvorführung wagt sich niemand ohne Proviant: Kekse, kübelweise Popcorn, Früchtebrötchen, von denen jedes einzelne ganzen sudanesischen Familien über die Dürre helfen könnte, und kunstvoll aufgeschäumte Kaffees aus Äthiopien, mit Zimt bestreut, werden mit Lazarettgestus gereicht.

Der leichte Anflug von Panik, der einem aus diesem Habitus entgegenschlägt, wird sofort vom sogenannten Stadtbild konterkariert. Stahl und Glas, Stahl und Glas, Stahl und Glas, mit obendrauf rotierenden Restaurants, als wollten die Menschen endlich auch anfangen, Photosynthese zu betreiben. Alles ist Transparenz, Reflexion, Bewegung, Kommunikation. Die Stadt ist voller Zwanzigjähriger, die die Hauptverkehrsstraße, die Granville Street, zu beiden Seiten bettelnd, trommelnd, Schmuck verkaufend und auf Schlafsäcken ausruhend, belagern.

Die besten asiatischen Filme – in Kanada

Die ursprünglich rein angelsächsische Bevölkerung Vancouvers, die vor knapp über hundert Jahren hier als Holzfäller einzog, ist inzwischen zu 40 Prozent asiatisch. Nach den Chinesen, Koreanern und Taiwanesen kommen nun immer mehr Leute aus Hongkong, die Angst vor der Wiedervereinigung mit der Volksrepublik haben. Sie besitzen echtes Geld, und man kann ihre Häuser sofort daran erkennen, daß sie das ganze Grundstück füllen und oft unschön darüber hinausragen. Es gibt ein eigenes Chinatown, das zweitgrößte auf dem nordamerikanischen Kontinents nach San Francisco. Da erscheint es nur recht und billig, wenn sich das Filmfestival der Stadt durch die weltweit beste Auswahl asiatischer Filme hervortut. Das liegt nicht zuletzt daran, daß das Programm in Vancouver von dem englischen Filmkritiker Tony Rayns zusammengestellt wird, der wie ein venezianischer Mäzen ständig auf der Suche nach neuen Produktionen Schneidetische, Dreharbeiten (zur Zeit begleitet er Zhang Yimou), Kinos und Bars durchkämmt, Tips bekommt und inzwischen, so muß man sagen, trotz nicht unerheblicher körperlicher Fulminanz, selbst ein wenig asiatisch aussieht.

Viele Leute machen sich ja große Sorgen darüber, daß sich sowohl Produktion als auch Wahrnehmung von Filmen immer mehr internationalisieren, was gerne mit Standardisierung, Amerikanisierung und also Verblödung gleichgesetzt wird. Fahrt nach Vancouver! Beim Besuch des chinesischen Films „Guangchang“ (Der Platz) in der Pacific Cinématheque kann man wieder feststellen, daß das ein Quatsch ist. Man sieht dort, zusammen mit vor allem älteren, aus Chinatown mit dampfenden Eßwaren angereisten Herrschaften, einen Film über den Platz des Himmlischen Friedens, der so ziemlich das Intelligenteste ist, was in den letzten Jahren im Dokumentarfilm passiert ist.

Der Regisseur, Zhang Yuan, spielt seit Jahren Katz und Maus mit der Zensur (man muß leider sagen: vor allem Maus). Er weiß nie, wann die Behörden zugreifen: ob noch bei den Dreharbeiten, oder am Schneidetisch, oder ob vielleicht, wie bereits geschehen, ein Film während der laufenden Kinovorführung aus dem Projektor gerissen und zerstört wird. Zhang, nicht auf den Kopf gefallen, hat ihnen nun einen Film vorgesetzt, gegen den es nichts, aber auch gar nichts einzuwenden gibt. Man sieht, wie chinesische Familien den Platz des Himmlischen Friedens am Sonntag besuchen, um dort Drachen steigen und Schnappschüsse (!) von sich anfertigen zu lassen. Schulklassen aus den Provinzen werden von einem staatlichen Kamerateam befragt, was hier auf diesem Platz stattfand, und geben die erwartete Antwort im Kinderchor: „Hier an dieser Stelle hat sich 1949 das chinesische Volk erhoben, die Volksrepublik China wurde ausgerufen.“

Im Hintergrund hängt ein Bild von Mao. Eine Gruppe alter Leute beim Tai Chi, andere spielen Karten. Schöne junge Frauen kommen in Chanel-Kostümen aus den besten Hotels der Stadt, ein Junge scheitert an seinem Skateboard. Polizisten und paradierende Soldaten erzählen der Interviewerin von allen möglichen Erlebnissen auf dem Platz. Als der Skateboarder einmal versehentlich gefährlich nah an einer Gruppe stehender Polizisten vorbeifährt, hält man den Atem an.

Aber nie, nie, nie fällt das Wort, auf das man die ganze Zeit wartet, niemand spricht von dem Massaker von 1989. Durch diese Abwesenheit ist es von einer fast erdrückenden Präsenz, die ein offenes Wort wahrscheinlich kaum erreichen könnte.

Ein nackter Mann mitten in Tokio

Einige Bilder scheinen das Ereignis fast zu streifen: Ein Polizist vor dem Bild des Vorsitzenden Mao, eine Gruppe jüngerer Leute, die aus einem im Film nicht benannten Grund irgendwie beunruhigt gen Osten schauen, plötzlich Losrennende. Ein gespenstischer Film, aber noch gespenstischer war, daß die anwesenden Chinesen den Schauer, der uns Wessis über den Rücken lief, nicht zu spüren schienen. Für sie war das Ganze offenbar eher so eine kleine Postkarte von zu Hause, mit Anekdoten und Folklore, „ein bißchen wenig Handlung vielleicht“, wie ein älterer Herr zu seiner Nachbarin sagte.

Auf dem Weg von Kino zu Kino begegnet man allenthalben einem ganz eigentümlichen Geschmacksgemisch: Man sieht Handarbeiten im Quäker-Stil, also Steppdecken, gekerbte Stühle, Blumengestecke, die jedoch mit indianischen Mustern und Schnitzereien gekreuzt werden. Plus New Age, plus Grunge. Versöhnung durch gemeinsam benutzte Ornamente?

Die schönsten japanischen Filme stammten von einem Amerikaner: Donald Ritchie, hierzulande vor allem durch seine fantastischen Filmbücher bekannt (Ozu ist sein Held), hat in den sechziger Jahren Kurzfilme gemacht, die eigentlich nur für den Hausgebrauch bestimmt waren. Sie sind sozusagen in der Minute entstanden, als das Fraternisierungsverbot, dem Ritchie als Besatzer ja nun einmal unterlag, aufgehoben wurde. Er hat ein paar Freunde von sich gebeten, mitzumachen. Beispiel: Eine aparte Gesellschaft von Westlern steht auf einer Party zusammen. Ein einziger Japaner ist dabei. (Elegante Schwarzweißfotografie, kein Text, sieht ein bißchen aus wie früher Godard). Eine Frau kommt und wirft begehrliche Blicke auf sein Jackett. Er schenkt es ihr. Eine nächste will seine Hose, die andere wieder seine Schuhe und so weiter, bis er sich genötigt sieht, splitternackt durch Tokio zu gehen. Seine Landsleute, von Ritchie an einem echten Sonntagmorgen im echten Tokio aufgenommen, weichen erschrocken aus. Niemand will mit hineingezogen werden ...

Unzählige, hier nicht sonderlich bekannte Typen und Positionen des asiatischen Kinos tauchen auf: Ein tätowierter Gangster, der sich plötzlich als Samurai entpuppt, weil er die „Familie“ nicht für den Drogenhandel mißbraucht sehen will („Another Lonely Hit Man“, Rokuro); eine Pianistin, die einen toten Polizisten durch den Wald schleppt, weil sie versprochen hat, ihn zu beerdigen („Elephant Song“, Go); japanische Oblomows („Blind Alley“, Go) und so weiter. Auf Vancouvers seltsamen kulturellen Humus fallen sie als Inspiration, nicht als Exotismus.