Gottes Kirmesbude

■ Klaus und Margit Biehl sind Norddeutschlands neue Schaustellerseelsorger

Die tausend Stimmen auf dem Bremer Freimarkt: quäkende Losverkäufer, einpeitschende Topspin-Animateure, quietschende Autoscooter-Crasher, gröhlende Besoffene, johlende Betriebsbelegschaften am Verliermichnichtseil. Eine Stimme fehlt – die Stimme Gottes. Das kleinste „Geschäft“ auf den Kirmessen und Jahrmärkten im Lande ist ein Wohnwagen namens „Weltenbummler“. Der gehört Klaus und Margit Biehl, Gottesmann und Gottesfrau. Er ist seit diesem Oktober der neue Schaustellerseelsorger der „Region Nord“, das ist das Gebiet zwischen Nordsee und einer Linie Düsseldorf-Göttingen. Sie ist seine Gemeindehelferin. Den Bremer Freimark allerdings meiden die Biehls. „Zuviel Hektik,“ sagt der Schaustellerpfarrer.

Etwa 23.000 Mitglieder zählt die evangelische Gemeinde der „Reisenden“ in Deutschland. Die meisten pendeln zwischen den zahllosen Stoppel-, Galli- und Kramermärkten Norddeutschlands hin und her und gelten als erstaunlich kirchentreu. Wenn man weiß, daß sich ganze drei Pfarrer in Deutschland die evangelische Schaustellerseelsorge teilen, ahnt man, wie's beim Geschäft der Biehls zugeht. Man muß Glück haben, will man die beiden daheim in Stinstedt bei Bremerhaven antreffen.

Heute sitzt Klaus Biehl in Stinstedt am Schreibtisch über seiner Predigt für den Leeraner Galli-Markt. Er hat mitbekommen, daß sich die Schausteller dort um Mülltrennung streiten. Und er hat eine alte Chronik aufgetan, derzufolge früher in Leer Menschen wegen ordnungswidriger Müllentsorgung in Ketten gelegt wurden. Er wird über „Spielregeln“ predigen und die Zehn Gebote. „Als Prediger,“ sagt er, „muß ich demütig sein. Ein, zwei einfache Sachen kann ich ihnen mit auf den Weg geben, knappe Sätze, mit denen das Leben Spaß macht.“ Nicht länger als zehn Minuten strapaziert er mit der Predigt seine latent übermüdete Gemeinde bzw. den kleinen Teil, der sich zwischen Frühstück und Öffnen der Geschäfte ins Bierzelt oder auf die Scooterplatte locken läßt. Vielleicht 50, 60 werden kommen am Sonntag, etliche ortsansässige Gläubige sind da aber schon mitgerechnet.

Auf einem Regal in Biehls winzigem Büro steht ein aufziehbares Spielzeugkarussell mit Musik. „Für unser Pfarrerehepaar Biehl. Zur Erinnerung an die Leipziger Schaustellergemeinde“ steht darauf geschrieben. Ab 1978 kümmerte sich Biehl, nach sieben Jahren Härtetest in der Magdeburger „Trinkerrettung“ sowie der Gehörlosen- und der Flußschifferseelsorge, um die Schausteller in der DDR. Schaustellerseelsorge hieß: mit den Menschen zusammenleben. Einspringen, wenn jemand krank wurde. Auch mal Lose verkaufen. Fischbrötchen belegen. Am Riesenrad die Kasse machen. Zur Not hat Frau Biehl den Kettenflieger betrieben. Nach Feierabend wurde oft gemeinsam gegrillt. Nebenher hatte der Gottesmann immer ein Ohr für die Sorgen der Seinen. Oder eilte zu einer Taufe, einer Trauung, einer Beerdigung.

17 Jahre unter Schaustellern, das wurde familiär, zumal in der DDR, die solcherart unorganisierbares Völkchen mißtrauisch beäugte. „Das waren 17 Jahre Arbeit im Versteckten,“ sagt Biehl. 1994 dann beschloß die in Etatnöte geratene evangelische Kirche, sich den Luxus von einem Schaustellerpfarrer und einem Zirkuspfarrer in den Neuen Ländern nicht mehr zu leisten. 1995 wurden die Biehls in den Westen versetzt, wo ihr Vorgänger, der Diakon Feige, soeben in Rente ging. Sie verließen „die Familie“ und gerieten in die auf Umsatz orientierte High-Tec-Rummelwelt des Westens.

Pfarrer Biehl blättert in dem Karteikasten, den ihm Kollege Feige überlassen hat. Es gibt Tausende von Rummeln und Märkten in der Region Nord. Die seelsorgerischen Möglichkeiten erscheinen von vornherein so begrenzt, daß andere als die Biehls vielleicht mutlos würden. Doch trotz Funktelefon und rund 50.000 Straßenkilometern im Jahr – es ist den beiden nicht einmal Unruhe anzumerken. Tatsächlich ist ihr erstes Angebot an die Schausteller „ein bißchen Ruhe, ein Moment der Besinnung“. Nur ein Angebot. „Wie man an einer Losbude vorbeigehen kann, kann der Schausteller an uns vorbeigehen,“ sagt Biehl.

Mit ihrem „Weltenbummler“ stellen sie sich mitten in den Trubel eines Jahrmarktsplatzes, wo ihnen abends die Besucher an den Camper pinkeln. Die Kakophonie, die bis spät in die Nacht aus den Boxen der Fahrgeschäfte schallt, macht Schlafen unmöglich. Die Biehls teilen auch Kälte und Nässe mit ihrer Gemeinde. „Seine Firma deutlich machen, nicht durch Schilder, sondern durch Sein“, so lautet Biehls Devise. Er verzichtet folgerichtig auf jede „Berufsbekleidung“ und „pastorales Auftreten“. Im übrigen sind's ja beides Camper aus Leidenschaft.

Für den Augenblick heißt es für den Pfarrer und seine Frau: erst einmal die neuen Schäfchen kennenlernen. Also ziehen sie von Bude zu Bude, schauen in die Wohnwagen rein und stellen sich vor. „Wir kommen immmer richtig und brauchen keine Angst zu haben, daß wir stören“, lautet ihre Autosuggestion.

Leider können sie nicht alle Wünsche ihrer Schausteller erfüllen. Die hätten es immer wieder zu gern, daß der Pfarrer ihr neues Fahrgeschäft segnet. Doch ein Protestant weiht keine toten Gegenstände. Weil aber die Güte des Schaustellerseelsorgers ohne Ende ist, hat er den Kompromiß erdacht, bei Bedarf die Menschen und ihren Weg zu segnen, wobei ohne Frage auch etwas Segen aufs Geschäft abfällt.

Burkhard Straßmann