Der Herr der Zahlen

■ Gesichter der Großstadt: Landeswahlleiter Günther Appel pflegt das Understatement und das Systematische / Seine Welt sind Methoden und Modelle

„Man hat's gerochen“, flüstert mir ein älterer Mann im Treppenhaus zu. Er meint die Geschichte des Gebäudes in Friedrichsfelde zwischen Platte und Tierpark. Früher saß hier die Stasi, doch das ist vorbei. Der Stacheldraht wurde mittlerweile entfernt, die alten Mauern, die das Gelände von der Außenwelt abgeschirmt haben, stehen zum Teil noch. Heute ist hier das Statistische Landesamt (StaLa) untergebracht. Gestern, als sich das bürgerliche System wieder mal selbst legimierte, liefen hier alle Fäden zusammen: Das Amt war die Ergebniszentrale für die offiziellen Wahlergebnisse und damit das „Hirn der Wahlen“.

250 der insgesamt 500 Mitarbeiter hatte Günther Appel, Direktor des StaLa und Landeswahlleiter, allein im eigenen Haus antreten lassen. Rund 25.000 Beschäftigte, einschließlich der 23.000 ehrenamtlichen Wahlhelfer, wirkten an der Prozedur mit. Für Appel war es die neunte Wahl als oberster Chef der Stimmenzähler. Er ist für den reibungslosen Ablauf des Urnengangs von knapp 2,5 Millionen Wahlberechtigten verantwortlich.

Für Appel ist die Wahl hauptsächlich ein statistisches Problem, das es zu lösen gilt. Nach Auszählung der Wahlzettel in den 2.850 Wahllokalen wurden die Ergebnisse zunächst den Bezirkswahlämtern (unter Verwendung von Geheimnummern) telefonisch übermittelt und dort in die Computer eingegeben, die wiederum mit dem Rechner im StaLa vernetzt sind. Dieser spuckte das amtliche Endergebnis aus, das erst heute offiziell vorgestellt wird.

„Nein, der alte Geist weht hier nicht mehr, das will ich nicht hoffen“, lacht Appel über die Geschichte des Hauses. Kurz vor dem Wahltag wirkt der Landeswahlleiter ruhig und gelassen. Von Hektik ist keine Spur zu merken, obwohl vier Tage vor der Wahl der Zentralrechner, auf dem alle Wahlunterlagen gespeichert sind, seinen Geist aufgegeben hatte. Nicht einmal abstürzende Rechner und Wahlhelfer, die heimlich von ihrem Wahllokal verschwinden, scheinen den erfahrenen Wahlmanager aus der Ruhe zu bringen.

Bereits als Vierzehnjähriger durfte Günther Appel als Verwaltungslehrling in seiner Heimatstadt Wilhelmshaven eine Liste mit Wahlergebnissen über den Korridor tragen. 1980, im Alter von vierundvierzig Jahren wurde er dann Leiter des Statistischen Landesamtes in Berlin und damit gleichzeitig Landeswahlleiter: eine Bilderbuchkarriere. Dazwischen Abitur auf dem Zweitem Bildungsweg, Volkswirtschaftsstudium in Berlin, Studienaufenthalt in England – ein Land, das dem zurückhaltenden Gentleman gefällt.

Als Ende der sechziger Jahre der Rabatz an den deutschen Unis losging, hatte Appel schon sein Examen abgelegt und bastelte in der Amtsstube weiter an seiner Karriere. Gegen den Strich ließ der Erfolgreiche andere bürsten, umstürzlerische Gedanken waren ihm fremd. Er selbst hatte damals als studentischer Sprecher der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät den Weg der friedlichen Verhandlungen gewählt – ohne Erfolg. Als er dann sah, daß erst mit handfesten Krawallen an den Universitäten grundlegende Veränderungen erkämpft werden konnten, war er erschüttert. Ein Revoluzzer ist er dennoch nicht geworden. Er hat sich andere Wege gesucht.

Heute ist Günther Appel ein Experte auf seinem Fachgebiet. Dennoch pflegt er den Stil des Understatements. Seine Statistikvorlesungen an der TU sind rappelvoll. Doch auch ihm, der Leistung in den Mittelpunkt stellt, sind seine Studenten mittlerweile zu artig. Der Wissenschaftler äußert sich kritisch. Ein chinesisches Sprichwort hat es ihm angetan: „Wenn du auf einem großen Fluß bist und aufhörst zu rudern, dann bleibst du nicht stehen, du wirst zurückgetrieben.“ Der Umsichtige setzt auf Kontinuität, auf Systematik. Gesellschaftspolitisches Engagement sei wichtig, betont der SPDler, man müsse sich kritisch mit den Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft auseinandersetzen. Konkrete Aussagen macht er dazu nicht. In seiner Welt von Methoden und Modellen ist der stets Korrekte schwer (an)greifbar.

Wovor er sich fürchte? Er protestiert: „Seit wann fürchte ich mich?“ Einen Moment lang ist es mucksmäuschenstill im Raum. Dann siegt der Rationalist und erzählt uns was von modernen Managementphilosophien, neuen Techniken und Verfahren wie TQM, also „total quality management“, mit denen durch eine stärkere Einbeziehung der Mitarbeiter in Planungsprozesse, die Leistungen optimiert werden sollen.

Günther Appel scheint ein Homo faber zu sein, der sich seine Systeme sachlicher Ordnungsprinzipien baut. Seine Domäne sind die harten Zahlen, die Sphäre der meßbaren Welten. Gibt es für ihn auch etwas, was außerhalb von Kontrolle und Verstand liegt? Nein, mit einem Laster kann er nicht dienen. Er wirkt verlegen, wendet sich hilflos an seinen Pressesprecher: „Herr Engels, Sie sind doch für böse Sachen zuständig.“ Inge Braun