Leben wie auf Messers Schneide

■ Weil sie die Saufereien ihres Mannes nicht mehr ertrug, stach eine Frau zu: Nach dem glimpflichen Ausgang der Messerstecherei will das Ehepaar jetzt die Chance für einen Neuanfang ohne Alkohol nutzen

Zwei riesige „Berliner Kindl“- Schilder heißen den Besucher in der Kleingartenkolonie in Neukölln willkommen. Auf dem Weg dorthin jede Menge Kneipen und Imbißbuden mit Alkoholwerbung bis zum Abwinken. Während einzelne Parzellen in der Dauerkolonie schwer zu finden sind, ist das Vereinslokal bestens ausgeschildert. Veronika und Dieter Kunzian*, die der Alkohol an den Rande einer Katastrophe brachte, versuchen, sich gegen diese Verführung zum Trinken zu wehren.

Doch das war nicht immer so. Dreizehn Jahre lang lebten die beiden in einem „ständigen Auf und Ab“. Der Alkohol stellte die Beziehung zwischen Dieter Kunzian, der an Muskelschwund leidet und seiner Frau, die ihn pflegt, auf eine harte Probe. War der 50jährige Frührentner so richtig in Fahrt, beschimpfte und schlug er seine Frau, zerriß ihre Lieblingskleidungsstücke und demolierte die Wohnung. Achtmal zeigte Veronika Kunzian ihren Mann im Laufe der Jahre an. Doch jedes Mal zog sie die Anzeigen wieder zurück. Kehrte mit der Nüchternheit der Charme und die großzügige Art ihres Mannes zurück, vergab sie ihm.

Im Februar konnte sie die Sauferei ihres Mannes nicht mehr ertragen. Sie stach mit einem riesigen Rouladenmesser auf ihn ein. An die Tat, die ihr Mann nur leicht verletzt überstand, kann sie sich nicht erinnern. Sie selbst hatte getrunken – wie so oft, wenn sie nicht mehr konnte. Eine Flasche Wein und Beruhigungstabletten führten zu einem Filmriß. Im August wurde sie zu anderthalb Jahren auf Bewährung verurteilt.

Vor Gericht hatte ihr Mann die Schuld auf sich genommen. „Hätte ich mich wie ein Mensch und nicht wie ein Schwein benommen, wäre das nicht passiert“, hatte er gesagt. Er versprach dem Richter, keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren. „Das sage ich nicht so dahin“, bekräftigte er seine Absicht. „Ich hab meine Frau lieb und wir möchten zusammen alt werden.“ Das will auch Veronika Kunzian. Doch vor dem Richter hatte sie ihrem Mann eine Bedingung gestellt: keinen Tropfen Alkohol mehr.

Auch wenn sie sich an die Messerstiche nicht erinnern kann, ist ihr die sechsmonatige Untersuchungshaft bittere Erfahrung genug. „Die Knastzeit werde ich nicht so leicht los“, sagt sie zwei Monate nach ihrer Entlassung. „Ständig die Sprüche der Mitgefangenen, die ihrer Entlassung entgegenfieberten, um sich ,erst einmal so richtig vollaufen‘ zu lassen. Das hat mich angewidert.“

Acht Monate nach der Tat sitzen Veronika und Dieter Kunzian in ihrem Gartenhäuschen. In der picobello aufgeräumten Laube mit den vielen Blumenampeln voller Plastikblumen und den obligatorischen Gartenzwergen verbringen sie seit Jahren die Sommermonate. Nur im Winter ziehen sie sich in die Mietwohnung in Alt-Mariendorf zurück. Äußerlich hat der Alkohol bei ihnen keine Spuren hinterlassen. Dieter Kunzian wirkt genauso, wie ihn seine Frau als Angeklagte vor Gericht beschrieben hatte: nüchtern sei er „sanftmütig und unheimlich ehrlich“.

Er trägt Jogginghose und Sweatshirt. Seine Frau ist, wie auch im Gerichtssaal, schick angezogen. Lippenstift, Lidschatten, Nagellack und Kleidung sind farblich aufeinander abgestimmt. Eine Perlenkette, Goldohrringe und ein Anstecker mit zwei Vögeln ergänzen ihre Garderobe. „Ich habe einen Klamottenfimmel“, sagt sie. Während sie ihre langen Haare im Gerichtssaal streng zu einem Zopf geflochten hatte, trägt sie jetzt eine Pferdeschwanz, der ihr locker über die Schulter fällt. Die Modeverkäuferin ist sicher, am Äußeren der Leute zu erkennen, wer trinkt. „Man sieht, wer säuft“, sagt sie. „Schade um's Geld.“

Der Schreck aus der blutigen Auseinandersetzung, „dem blöden Ding im Suff“, wie Veronika Kunzian sagt, sitzt den beiden noch tief in den Knochen. „Wir wollen nicht abrutschen“, sagt sie. „Es steht einfach zu viel auf dem Spiel.“ Damit meint sie nicht in erster Linie die lange Bewährungszeit von vier Jahren, gegen die sie Revision eingelegt hat, sondern „unsere Ehe, meine Tochter, alles“.

Die 14jährige Tochter Sandra war oft vor den Streitereien der Eltern im Suff davongelaufen. In einem Abschiedsbrief hatte sie geschrieben: „Wozu bin ich auf der Welt, wenn ihr immer streitet. Ihr macht mir das Leben schwer. Manchmal möchte ich den Schnaps weggießen.“ Vor drei Monaten war sie noch skeptisch, ob ihre Mutter und ihr Stiefvater den Neuanfang schaffen würden. „Doch jetzt läuft es gut“, sagt sie.

Dieter Kunzian hält nichts von Therapien. Er kenne jede Menge Leute, die trotz Entziehung weitersaufen würden, sagt er. Er vertraut auf seine Willenskraft. Er habe immer mal wieder eine Alkoholpause eingelegt. Aus freien Stücken. Warum solle er es diesmal nicht schaffen? Endgültig. „Es ist auch eine Intelligenzsache“, betont er. Es sei nicht seine Schuld, daß er schon immer mehr als andere vertragen habe.

Seine Frau dagegen sagt, daß sie „nie mehr als andere“ getrunken habe. Einmal allerdings wurde ihr der Führerschein wegen Trunkenheit entzogen. „Dafür schäme ich mich noch heute“, sagt sie mit leiser Stimme. Das Wort „Alkoholiker“ kommt auch ihr nicht über die Lippen. Die Mischung aus „Bier und kleinem Kräuterfreund“ habe sie nie als Abhängigkeit empfunden. „Der Alkohol gehörte zum täglichen Leben dazu“, ergänzt ihr Mann. Ob früher in der Firma, wo schon der Kauf neuer Schuhe begossen wurde oder später, als der Alkohol ihn seine Schmerzen und den Verlust seiner Arbeit vergessen ließ. „Doch es widerte mich zum Schluß an“, sagt sie und verzieht das Gesicht. Da ist ihr Mann nicht ganz ihrer Meinung. „Es war doch oft auch schön“, unterbricht er sie. „Dann haben wir Liederraten gemacht, gelacht und geknutscht“, frischt er die Erinnerung an eine Zeit auf, die die beiden ein für allemal vergessen wollen. Doch sie will diesem düsterem Kapitel, das ihr beider Leben fast zerstört hat, nichts Positives abgewinnen. „Nüchtern kann man alles besser abwägen“, sagt sie und blickt ihrem Mann fest in die Augen. Er hält ihrem Blick stand. Barbara Bollwahn

* Namen geändert