„Herr, hol mich zu Dir!“

Tamtam statt „Klassenkampf“: In Pflichtschuldigkeit erstarrt, unterliegt St. Pauli 0:1 der Gütesiegel-Gewißheit von Bayern München  ■ Aus Hamburg Katrin Weber-Klüver

Vor langer, langer Zeit, im Oktober 1989, als Pay-TV und Merchandising noch abstrakte Begriffe waren, erlaubte sich der FC St. Pauli den Spaß, sein Heimspiel gegen den FC Bayern München in der offiziellen Stadionzeitung als „Klassenkampf“ anzukündigen. Daß das Heft auf Betreiben des Münchner Managers Uli Hoeneß eingestampft wurde, bestärkte nur den vergnügten Glauben an die Wahrheit dieser Losung.

Sechs Jahre später liefern auseinanderklaffende Etats, Transfersummen und Umsätze mit beflockten Hemden immer mehr Gründe, die Klassengesellschaft zu zitieren. Und nach wie vor gibt es keine besseren Pole als den armen Stadtteilklub hier und das Millionenunternehmen dort. Allein: Die Zeit jugendlichen Revoluzzertums am Millerntor ist vorbei. Vernünftig hat sich der Verein den Gesetzen des Kapitals unterworfen und enthält sich jeder ideologischen Aufheizung. Bieder wurde deshalb in der Stadionpostille zum Bayern- Spiel 1995 vom „Spitzen-Spiel“ geträumt, die Lokalpresse kündigte betulich das „Spiel des Jahres“ an.

Gemeint ist mit solchen Slogans immer noch der Wunsch, der entfesselte Wille der Unterprivilegierten möge sich über die Überlegenheit der faktisch Besten erheben. Und nichts illustriert diese Sehnsucht so komisch und romantisch wie Guido Schröters St. Pauli-Comic, in dem ein seliger Anhänger nach einem 2:0-Heimsieg über die Bayern auf den Rasen gesunken ist und gen Himmel spricht: „Herr hol mich zu Dir! Was jetzt noch kommt, hat keinen Wert mehr.“

Doch in der säkularisierten Fußballwelt zählt Ergriffenheit nur noch am Rande, „Spiel des Jahres“ meint vor allem lärmigen Budenzauber, meint bunt gekleidete Männer, die mit Fallschirmen in den Mittelkreis springen und dabei wahlweise Totenkopf- und Werbefähnchen schwingen. Kein Wunder, daß bei solch einem Tamtam weder der einst für ihre ironiebegabte Gegnerbeschimpfung bekannten Gegengerade noch den früher daheim für ihre Moral berüchtigten Spielern des FC St. Pauli besonders viel einfiel. Bewiesen wurde dafür, daß das Besondere sich zur Unkenntlichkeit abnutzt, wenn es nur oft genug im Fernsehen zitiert wird (diesmal auch via Pay-TV). Pflichtschuldig wurde die Münchner Aufstellung ausgepfiffen, pflichtschuldig gelegentlich der neue Lieblingssong „You'll never walk alone“ angestimmt. Das ganze Zwölfter Mann/ Frau-Programm am Millerntor ist derart in kurzatmiger Pflichtschuldigkeit erstarrt, daß die Hamburger neben Freiburg die schlechteste Heimelf stellen. Am Sonnabend schlossen sich die Spieler einmal mehr der kreativen Dauerpause auf den Rängen an und überließen den saturierten Tabellenführern das Terrain. Pflichtschuldig erzielte das Münchner Merchandising-Wunder Klinsmann das Tor des Tages.

Zum Verhängnis wurde den Hamburgern die taktische Schulung, die sie sich in dem Maße zulegen, wie sie ihr Schmuddelkind- Image abstreifen. Mit ungestümer Angriffslust hätten sie vielleicht die Münchner verschreckt, die wie in dieser Saison üblich ohne System und Hingabe dafür aber mit der Gewißheit individueller Gütesiegel kickten. Vielleicht war es der ob ihres Fehlens so schwer zu begegnenden Strategie Otto Rehhagels anzulasten, daß Uli Maslo das Heil St. Paulis in destruktivem Abwarten suchte. Als er in der zweiten Halbzeit offensivere Spieler einwechselte, erhöhte sich zwar die Zahl der Chancen, nicht aber die der Tore. Ein Manko besonders deshalb, weil die Münchner nun auch noch Lust- und Ideenlosigkeit übermannte. Das Bedürfnis nach einem Kontertor war bei ihnen nicht zu erkennen, das Kalkül Rehhagels, den Vorsprung über die Zeit zu bringen, schon.

Als das vollbracht war, ersparten sich die Hamburger hohlen Applaus und rituelles Abklatschen. Alle verdrückten sich zügig von einem Ort, an dem nichts passiert war, was für glückliche Thekengespräche viel hergegeben hätte. Und schlimmer noch: Langsam beschleicht auch die mythologieliebenden St. Paulianer der schreckliche Verdacht, daß es in einer fußballshowkonformen Welt womöglich keine Spiele mehr geben kann, nach denen sie sich nur noch in den Himmel wünschen.

FC Bayern München: Kahn - Strunz - Kreuzer, Helmer - Zickler, Hamann, Sforza, Herzog (81. Nerlinger), Ziege - Klinsmann (86. Scholl), Papin (71. Kostadinow)

Zuschauer: 20.725 (ausverkauft)

Tor: 0:1 Klinsmann (10.)

FC St. Pauli Hamburg: Thomforde - Dammann - Trulsen, Schlindwein - Zmijani, Hanke (70. Becker), Pröpper, Caligiuri (46. Schubert), Sobotzik (83. Driller), Dinzey - Sawitschew