„Beklemmende Zähflüssigkeit“

■ Auf ihrem dritten Gewerkschaftstag tut sich die IG Medien schwer, über ihre eigenen Fehler zu debattieren

Bielefeld (taz) — „Wir sind hierher gekommen, weil wir es oft mit einer beklemmenden Zähflüssigkeit des gewerkschaftlichen Reformprozesses zu tun haben. Wir brauchen und wollen die Reform, sie kann aber auch scheitern.“ So eröffnete die stellvertretende und scheidende Vorsitzende Gisela Kessler den dritten Gewerkschaftstag der IG Medien, der „ein großer Ratschlag“ zur Standortbestimmung werden soll. 408 Delegierte bis hin zum Vorsitzenden diskutieren erstmals offener auch über eigene Fehler, obwohl das vielen sehr schwer fällt.

„Wenn es richtig ist, daß wir vor radikalen Umbrüchen stehen, so sollten wir auch den Mut zu radikalem Umdenken aufbringen“, erklärte Detlef Hensche, der Vorsitzende der Organisation. Das Leitbild einer solidarischen Gesellschaft sei nicht falsch, weil die Marktwirtschaft ihren Siegeszug rund um die Erde angetreten habe. Aber die gesellschaftlichen Bedingungen hätten sich geändert. Individualisierung, der Wandel vom Arbeiter zum Angestellten, die Gewichtsverlagerung von der Industrie zu den Dienstleistungen und die Globalisierung verlangten neue Antworten. Die Tarifflucht, die gegenwärtig in allen Bereichen zu beobachten sei, sei keine vorübergehende Erscheinung. Die nationale Sozial- und Wettbewerbsordnung würde damit außer Kraft gesetzt. Die Gewerkschaften könnten sich jedoch nicht vom Tarifschutz für ihre Mitglieder verabschieden. Für die Zukunft seien breite Bewegung, mehr Kompetenz in Betrieben und Organisation, Zuwendung zu neuen Beschäftigtengruppen und offene Beteiligungsformen nötig. Hensche bekräftigte die Forderungen der IG Medien nach Gesundheitsschutz, Entlastung für SchichtarbeiterInnen, Vorruhestand, Zeitsouveränität, Beschäftigungssicherung und Frauengleichstellung, auch wenn der zurückliegende Arbeitskampf selbstkritisch zu beurteilen sei. Betriebliche und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse seien dazu außer Acht gelassen worden. Er warnte davor zu glauben, „wenn wir nur richtig wollen und lauf pfeifen, ohne den Blick aufs Drumherum, dann landen wir vor der Wand“. Es müßten nun neue Wege zur Überwindung von Spaltung und Egoismus gefunden werden. Dazu seien Dialog und Gegenmacht erforderlich.

Die IG Medien warnte auch vor dem Machtzuwachs der privaten Medien. Um so deutlicher müsse die Gewerkschaft dafür werben, daß der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine angemessene Gebührenerhebung braucht. Der stelltvertretende Vorsitzende Gerd Nies nannte 30 Mark Erhöhung sozial verträglich. Kritik übte die Gewerkschaft am Stand der DGB-Programmdiskussion. Hinter verschlossenen Türen werde nur an oberflächlicher Modernisierung gearbeitet. Ein Initiativantrag verlangt die Einbeziehung der Mitgliedschaft in die Programmdebatte. Notfalls müsse die Verabschiedung des Programms über 1996 hinaus verschoben werden. Mechtild Jansen