Die Industriegesellschaft hat keine Zukunft, gefragt ist eine Vision. Die haben WissenschaftlerInnen des Wuppertal-Instituts erarbeitet. In Köln wird heute ihr Modell für ein „zukunftsfähiges Deutschland“ vorgestellt Von Hermann-Josef Tenhagen

Freie Entfaltung in engeren Grenzen

Ein Zukunftsentwurf für Deutschland, einer, der nicht das Heil im abgeschafften Ladenschluß und im gemeinsamen europäischen Markt mit gemeinsamer Währung verspricht – ein politisches Hirngespinst? Mitnichten. In den vergangenen zwei Jahren haben 15 WissenschaftlerInnen des Wuppertal-Instituts versucht, erstmals ein praktisches Bild einer gerechteren und zukunftsfähigen Industriegesellschaft zu entwickeln. Und heute werden sie mit den BundesministerInnen Klaus Töpfer und Angela Merkel, mit einem Hertie-Manager und einer stellvertretenden DGB-Vorsitzenden diskutieren, wie man den Energieverbrauch drosseln, das Zubetonieren der Landschaft stoppen, die Giftspritzen der Bauern abstellen und trotzdem gemütlich leben kann.

Gerechter, das heißt für die WissenschaftlerInnen des renommierten Umweltinstituts, daß jeder Mensch im Prinzip das gleiche Recht hat, Auto zu fahren, die Heizung aufzudrehen und vor seiner Eichenschrankwand zu sitzen. Zukunftsfähig meint, daß dieses Recht sich nicht allein auf heute lebende Menschen bezieht, sondern daß wir auch zukünftigen Generationen „die gleichen Lebenschancen und eine intakte Natur“ hinterlassen müssen, heißt es in ihrer Studie „Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung“.

Auftraggeber der Studie war nicht etwa die Bundesregierung, die die Zukunft so groß auf ihre Fahnen geschrieben hat. Auftraggeber waren der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) und das katholische Hilfswerk MISEREOR. Auf die Idee gebracht hatten die Umweltschützer vom BUND vor zwei Jahren ihre niederländischen Kollegen von der Stichting Milieudefensie. Die hatten schon 1992 einen ähnlichen Entwurf vorgestellt, den sie damals „Sustainable Netherlands“ nannten. Allen Menschen stehe demnach ein „Umweltraum“ zur Verfügung, den sie nutzen können. Dieser Raum jedoch ist begrenzt: durch die Belastbarkeit von Ökosystemen und die Verfügbarkeit von Rohstoffen. Zukunftsfähig, so Milieudefensie, ist nur die freie Entfaltung in diesen Grenzen.

Die niederländische Studie entpuppte sich damals als brisant, aber auch politisch leicht angreifbar. Zwei wesentliche Schwächen der Milieudefensie-Studie wollten die Wuppertaler Wissenschaftler unbedingt vermeiden.

Nackte Einsparzahlen erschrecken nur unnötig

Erstens sollte nicht der Eindruck entstehen, daß eine gerechtere Welt wieder mal nur im Norden konzipiert wird, mit wenig Rücksicht auf die unmittelbaren Auswirkungen eines solchen Reformszenarios im Süden. Zum zweiten sollte eine psychologische Barriere abgebaut werden. Milieudefensie hatte die notwendige Verringerung im Verbrauch von Land und Energie auf einen Pro-Kopf-Verbrauch heruntergerechnet und festgestellt: Jeder Niederländer darf am Ende des Reformprogramms in 15 Jahren nur noch einen Liter Sprit pro Tag verbrauchen. Auch müßten sich die NiederländerInnen mit 50 bis 80 Gramm Fleisch am Tag bescheiden. Weil dieses Ziel zu vielen NiederländerInnen illusorisch vorkam, schlug das politische Pendel zurück. Auf dem Vulkan ist es warm, und es tanzt sich gemütlich.

Die Wuppertaler und ihre Auftraggeber zogen die Konsequenzen. Sie gaben zwar die Verminderung im Energie- und Flächenverbrauch an, die in Deutschland notwendig sein wird. Sie verzichteten aber auf eine Darstellung pro Kopf. Begründung des Projektleiters Reinhard Loske: „Das paßt nicht in den Duktus der Studie.“ Das Ziel einer 80prozentigen Verringerung des Energieverbrauchs bis zum Jahr 2050 sei ohnehin nur über eine Mischung aus technischer Entwicklung (Effizienz), Strukturwandel und Lebensstilveränderung (Suffizienz) zu erreichen. Nackte Einsparzahlen anzugeben erschreckt nicht nur unnötig, es verschleiert außerdem, daß es sich um einen dynamischen Prozeß handelt.

Zweitens verlängerten die deutschen Zukunftsvisionäre den Zeitrahmen. Hatten die Niederländer noch mit einem Reformprogramm bis zum Jahr 2010 argumentiert, geht der deutsche Rahmen bis ins Jahr 2050 und unterscheidet ganz realpolitisch kurzfristige Maßnahmen, mittelfristige (bis 2010) und langfristige Konzepte (bis 2050). Neue Kraftwerke werden heute für 30 bis 40 Jahre betrieben. Ein vor fünf Jahren gebautes Kraftwerk abzustellen, kann sehr teuer werden, es aber am Ende seiner Laufzeit durch Einsparprogramme oder ein hochmodernes Solarkraftwerk zu ersetzen ist billiger.

Vorwurf: Konzept läßt den armen Süden außen vor

Noch gravierender ist dieser Zeitfaktor beim Wohnungs- und Städtebau. Ein Null- oder Niedrigenergie-Haus zu bauen, ist für die Energiebilanz sicher vortrefflich. Aber was machen die BürgerInnen, die gerade ein stinknormales Haus gebaut haben, eine solche Eigentumswohnung bezogen haben oder als Mieter in einem Altbau leben. BürgerInnen, Verwaltungen und Industrie müssen sofort anfangen, aber sie brauchen Zeit, um diese Einsparpotentiale zu realisieren.

Drittens setzte sich in Deutschland mit MISEREOR eine Dritte- Welt-Organisation mit an den Tisch, um ein zukunftsfähiges Deutschland zu planen. „Wir können ja nicht Entwicklungsprogramme im Süden fördern, ohne uns Gedanken zu machen, welcher Raum für Entwicklung überhaupt noch zur Verfügung steht und wieviel wir davon im Norden schon verfrühstückt haben“, sagt Reinhard Hermle von MISEREOR.

Die Autoren haben versucht, sich gegen kritische Einwände abzusichern. Dem Vorwurf linker Dritte-Welt-Organisationen wie dem BUKO, daß ihr Konzept „die Eigendynamik der Märkte unterschätzt und die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zwischen Nord und Süd gar nicht antastet“, begegnen sie mit der Forderung nach einem Schuldenerlaß für die 32 ärmsten Staaten, damit „diese Länder ihre Abhängigkeit von den gegenwärtigen natur- und sozialschädlichen Exportproduktionen abbauen können“.

Zwei Löcher in ihrer Argumentation aber bleiben bestehen. So vertreten Loske und Co zwar die Auffassung, daß „innovationsfördernde und ökologisch orientierte Randbedingungen ein wesentliches Element der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft“ sein könnten. „Ein Rückgang der Weltmarkteinbindung“ sei aber zu erwarten. Die WissenschaftlerInnen schlagen deshalb den Aufbau eines zweiten Arbeitsmarktes vor, der den Umbau gesellschaftlich abstützen könnte. Ob und wie dies im nationalen Alleingang zu machen ist, wird nicht geklärt.

Das zweite Loch geht auf eine strategische Entscheidung zurück. Weil die Wuppertaler WissenschaftlerInnen und ihre Auftraggeber die Bürgerinnen und Bürger nicht erschrecken wollten, verzichteten sie darauf, darzustellen, mit wieviel weniger Ressourceneinsatz er oder sie persönlich die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft sichern kann.

Durch Fahrgemeinschaften eine kleine Revolution

Doch solche konkreten Beispiele, die den einen erschrecken mögen, bieten dem anderen den Ansatz für eigenes Handeln. Wer mit seinem alten 10-Liter-Auto aus Mittenwalde 30 Kilometer nach Berlin-Mitte zur Arbeit fährt, kann seinen persönlichen Spritverbrauch schon dadurch halbieren, daß er den Nachbarn oder die Nachbarin mitnimmt, die annähernd den gleichen Weg hat. Steht 1998 der Kauf eines neuen Autos an, weil es nach wie vor unverzichtbar scheint, wird ein Vier-Liter- Flitzer angeschafft. Mit der Nachbarin auf dem Beifahrersitz hat sich der persönliche Spritverbrauch dann um 80 Prozent vermindert – eine kleine Revolution.