Moralische Aufrüstung aus Amerika

Bill Clinton liebt es, John Major liebt es, und die Mütter lieben es auch, und bei Rudolf Scharping liegt es auf dem Nachttisch. Amitai Etzionis Plädoyer für viel solidarische Gemeinschaft und wenig Staat soll die Gesellschaft retten  ■ Von Sibylle Tönnies

Wer ist dieser Mann, den sich die CDU, die SPD und die Grünen als Galionsfigur an den Bug kleben wollen? Amitai Etzioni lebte bis 1936 als das Kind Werner Falk in Deutschland, wuchs in einer israelischen Kooperative auf und arbeitet seit 1957 in den USA.

Von dort verkündet der Professor für Soziologie die kommunitaristische Botschaft: Die Menschen mögen sich von dem Prinzip der Gesellschaft, von ihrem Individualismus und Egoismus abwenden und statt dessen eine solidarische, verantwortungsbewußte Gemeinschaft bilden, in der Pflichten mehr bedeuten als Rechte. Der Staat möge in den Hintergrund treten; statt ihn zum Adressaten von Ansprüchen zu machen, sollen die Menschen sich gegenseitig helfen: Sie sollen mehr Energie in ihre Familie und ihre Nachbarschaft stecken, in gemeinnützigen Vereinen tätig sein, ehrenamtlich arbeiten und auf diese Weise staatliche Aktivität entbehrlich machen.

Etzioni wird nicht nur von den deutschen Parteiführern, sondern auch von Bill Clinton, John Major und dessen Labour-Rivalen hofiert.

Die ältesten Rechte in Deutschland hat die CDU, denn die kommunitaristische Grundidee ist das Subsidiaritätsprinzip, das aus einer päpstlichen Enzyklika des Jahres 1932 stammt und von der CDU seit Anbeginn (insbesondere durch Biedenkopf) hochgehalten wurde. Für die Anrechte der Grünen spricht, daß das „Small is beautiful“, die kleinförmige solidarische Idylle, auf ihrem Terrain mehr Lebendigkeit besitzt als in der CDU, wo das Subsidiaritätsprinzip eher der Vormacht der katholischen Kirche als den Gruppierungen an der Basis zugute kam. Die SPD steht in dem Run auf Etzioni am schlechtesten da.

Scharping schrieb zwar in der Zeit: „Die Gesellschaft sollte, die Sozialdemokratie wird den kommunitaristischen Impuls offen aufgreifen.“ Dieser Brustton der Überzeugung täuscht über die mangelnde Tradition hinweg, die die SPD in Sachen Gemeinschaft hat. Der Sozialismus war nämlich das Gegenprogramm. Die Wahrung des Allgemeinwohls sollte den intermediären Institutionen weggenommen und dem Staat übergeben werden. Damit wollte man dem kirchlichen Einfluß entgegenwirken, aber auch die Ungleichheit (zum Beispiel zwischen reichen und armen Familien und Nachbarschaften) beseitigen. Noch in den 70er Jahren kämpften die Linken vehement gegen das Subsidiaritätsprinzip, forderten etwa Kommunalisierung der Jugendarbeit. Die SPD verliert wieder ein Stück von ihrem Charakter, wenn sie jetzt auf die kommunitaristische Schlidderbahn geht. Um eine solche handelt es sich nämlich. Etzioni ordnet sich in die Tönniessche Polarität zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft ein und gibt der Gemeinschaft den Vorzug. Dabei ist sein Ansatz aber durch und durch gesellschaftlich: Es geht ihm nämlich nicht um Partikularität und Besonderheit, sondern um das allgemeine Wohl. Dieses nationen- und sogar weltumfassende Ziel ist das Ziel von Modernität – von Gesellschaft.

Der scheinbaren Wendung zur Gemeinschaft liegt das Mißverständnis zugrunde, nur diese sei altruistisch und die Gesellschaft egoistisch. Tatsächlich erlaubt die Gemeinschaft zwar weniger individuellen Egoismus, dafür ist ihr kollektiver Egoismus aber um so stärker entwickelt. Die Gesellschaft hingegen hat ethische Maximen entwickelt, die nicht den Angehörigen der eigenen Gruppe, sondern dem Menschen an sich zugute kommen, dem als gleich und frei angesehenen abstrakten Menschen, gleichgültig, welchem Kollektiv er angehört.

Etzionis Impulse kommen aus dieser kosmopolitischen Kulturwelt – die Gruppe, für die er spricht, ist die ganze Menschheit. Dieser empfiehlt er, etwas enger aneinanderzurücken.

Amerika, du hast es besser, seufzte schon Goethe. Die USA sind das Land, in dem sich die universalen Maximen der Aufklärung zuerst ausgewirkt haben; sie prägen die amerikanische Verfassung und sind der Stolz jedes Amerikaners. Wenn man in Amerika sagt: Kehre dich um zu den Werten deiner Gemeinschaft, deiner Tradition!, so fordert man die Besinnung auf die gesellschaftlichen Tugenden. Das gibt dem amerikanischen Kommunitarismus eine einzigartige Position: Das Eigene und das Universale decken sich.

In Deutschland hat die Entwicklung einen entgegengesetzten, unglücklichen Weg genommen. Die aus der Antike stammenden gesellschaftlichen Maximen Freiheit und Gleichheit, die die Aufklärung durchzusetzen suchte, wurden hier seit 1800 als das Fremde, Kalte, Anonyme, Gleichmachende, Artifizielle bekämpft. Ein neuer Stern ging damals auf: die Gemeinschaft, und sie war das hierarchisch Geschichtete, Organische – was dem Feudalismus zugute kam. Die in der Romantik beginnende kulturelle Bevorzugung des Pols Gemeinschaft, bis hin zur Volksgemeinschaft, machte das deutsche Verhängnis aus; seine Ursache ist der mangelnde Sinn für Individualität und gleiche Rechtssubjektivität. Für Deutsche ist es deshalb wichtig, deutlicher zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zu unterscheiden, als es der Kommunitarismus tut. Gesellschaft hat einen Vorzug, der immer übersehen wird: Sie produziert Ethik im Unterschied zu Sitte. Wenn man das bedenkt, braucht man nicht den „Gang zu den Müttern“, zur Gemeinschaft, anzutreten, wenn man dem Allgemeinwohl dienen will. Man kann sich im Gegenteil bewußt in die Denkwelt der Gesellschaft stellen, die die Denkwelt der Renaissance und der Aufklärung ist. In der Tradition der Gemeinschaftsverehrung nämlich kommt man bei der politischen Romantik an und gerät, ob man will oder nicht, auf den deutschen Sonderweg. Gemeinschaft, nein danke! sollte die deutsche Parole sein, und wir sollten Etzioni bitten, daß er seine guten Ideen nicht als solche der Gemeinschaft, sondern solche der Gesellschaft vortragen möge. Zu leicht lädt seine Theorie uns sonst zu Mißverständnissen ein.

Trotzdem: Ich habe das Buch sehr gern gelesen. Ich habe nichts gegen moralische Aufrüstung und erwärme mich gern an Beispielen für gute Taten. Etzioni schreibt genau das, was ich meinen Kindern beizubringen versuche. Ich habe aber auch Verständnis für Leser, denen es auf den Wecker geht, wenn sie sich ohne die Führung von soziologischer Theorie die Allgemeinplätze des Guten anhören müssen.

Amitai Etzioni: „Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus“. Schäffer – Poeschel Verlag, Stuttgart 1995, 352 S., 49,80 DM