Die 23,6 Prozent, die die SPD bei den Wahlen in Berlin auf sich vereinigen konnte, markieren den absoluten Tiefstand. Dabei verkörperte vor allem in der Nachkriegszeit keine Stadt so stark das historische Selbstbild der Sozialdemokratie wie

Die 23,6 Prozent, die die SPD bei den Wahlen in Berlin auf sich vereinigen konnte, markieren den absoluten Tiefstand. Dabei verkörperte vor allem in der Nachkriegszeit keine Stadt so stark das historische Selbstbild der Sozialdemokratie wie Berlin. Ein kurzer Lehrgang des Niedergangs einer Volkspartei

Berliner SPD unter Mauerresten begraben

Der arme Wolfgang Thierse, am Abend des 22. Oktober der Presse zum Fraß vorgeworfen, nannte das Ergebnis der Wahlen für seine Partei bitter, haarsträubend, katastrophal. Eine Attribut vermied er: historisch. Tatsächlich bezeichnen die 23,6 Prozent, die die SPD in Berlin auf sich vereinigen konnte, den absoluten Tiefstand nicht nur seit 1945, sondern seit der Gründung der Partei. Keine Stadt verkörperte so stark das historische Selbstbild der SPD, in keiner zehrte sie so sehr vom Pathos des Widerstandes erst gegen Hitler, dann gegen die stalinistische Bedrohung. In den großen historischen Augenblicken der Nachkriegszeit wurden zwei ihrer charismatischen Parteiführer, Ernst Reuter und Willy Brandt, ins Mythische entrückt. Stadtheilige noch zu Lebzeiten, die mit ihrem überirdischen Glanz die nur zu irdische Parteimaschine SPD illuminierten. Deshalb auch wurden die Wahlen im Schatten der Berliner Blockade und später des Chrustschow-Ultimatums zu Veranstaltungen, die den Mythos bestätigten. Zuletzt 1963 mit 61,9 Prozent.

Zwei Jahrzehnte nach dem Krieg identifizierte sich die Berliner Bevölkerung mit der Sozialdemokratie – gegen Ulbricht, aber auch gegen Adenauer. Für die Generation der überlebenden Stadtbewohner war der Kampf gegen die Kommunisten eine Katharsis ohne Schmerzen. Jetzt verteidigten sie die Freiheit, und dies noch unter Führung antifaschistischer Emigranten. Die Bundesrepublikaner aber (sie wurden stets nur die Westdeutschen genannt) hatten keine Ahnung, was es hieß, Aug in Aug mit dem Feind zu leben. Sie hatten zu bewundern – und zu zahlen. Die Studentenbewegung der 60er Jahre war für die Berliner nicht nur infantil, rufschädigend und im Zweifel vom Osten dirigiert, sie war vor allem eine narzißtische Kränkung.

Nach zwei heroischen Jahrzehnten verflog der Mythos. Heinrich Albertz, der, die Revolte der Studenten nutzend, die Partei erneuern wollte, warf rasch das Handtuch. Die Stadt wurde von blassen Apparatschiks regiert, ohne Ausstrahlung, ohne Idee. Zwei dieser Verwalter, Schütz und Stobbe, stürzten über Bauskandale geradezu sizilianischen Ausmaßes. Die Partei sackte auf 30 Prozent ab und büßte, nach einem trostlosen Gastspiel Hans Apels, auch die Regierungsgewalt ein. Als Walter Momper 1989 den rot-grünen Senat formierte, hätte sich die Chance geboten, die SPD aus den Niederungen des Ressentiments und der Versumpfung herauszuführen. Aber dieser Prozeß, sicher schmerzhaft und sicher mit dem Verlust angestammter Wählergruppen verbunden, wurde gar nicht erst in Angriff genommen. Mit dem Einsturz der Mauer regredierte die SPD auf die Positionen der 80er Jahre.

Die Unfähigkeit der SPD, die ihr mit dem Sturz des SED-Regimes eröffneten Möglichkeiten zu nutzen, gehört zu den größten Widersinnigkeiten ihrer an Paradoxa reichen Geschichte. Sicher bleibt richtig, daß es gerade die modernen, auf die Beseitigung der Sonderrolle Berlins hinzielenden Elemente in der Politik des rot-grünen Senats waren, die ihr den Blick auf den Prozeß der Einheit trübten. Mit seinen grünen Koalitionspartnern hatte sich Momper auf einen langen Zeitraum für eine Reformpolitik in Zeiten internationaler Windstille eingerichtet. Selbst im Sommer 1989 spürte er von der manifesten Krise des SED-Parteienstaates kaum einen Lufthauch, und selbst am Tag des Mauerfalls kam ihm nicht in den Sinn, daß der „Normalität“ Westberlins die Stunde geschlagen habe. Und zu keinem Zeitpunkt begriff später die Führung der Berliner SPD, wie mit Brandts Metapher „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, umzugehen sei.

Dabei waren die Ostberliner geradezu geborene Wähler der Sozialdemokratie, was auch durch die ersten Wahlen in der demokratischen DDR bestätigt wurde. Alles, was von der SPD verlangt wurde, war ein Balanceakt, der den „unbescholtenen“ Mitgliedern der SED die Tür öffnete, ohne die Ideale der Bürgerbewegung in der DDR zu verraten. Der Eintritt in die Große Koalition nach den 1990er Wahlen symbolisierte hingegen einen doppelten Abschied: von der Programmatik „Rot- Grün“ und von der Integration des potentiell sozialdemokratischen Wählervolks in Ostberlin. Christian Semler, Berlin