Man läßt sich was erzählen Von Viola Roggenkamp

Abends, weil ich mit dem Fernsehen so ziemlich gebrochen habe, gehe ich gerne zu Veranstaltungen. Zum Beispiel in Vorträge. Da weiß jemand etwas, und ich lasse mir das erzählen. Aber auch wegen der Leute.

„Das Familienleben der Löwen“. Wer kommt da hin und hört sich das an? In der Evangelischen Akademie. Im Patriotischen Gebäude. Egal.

Es sprach ein Mann. Der Mann war klein. Einer von diesen verwegenen, kleinen Männern, die es statt durchs Familienleben durch die Savanne treibt. Man habe, sagt er mit heller Stimme, herausgefunden, daß es beim König der Tiere so etwas wie Feigheit gebe. Durchs Publikum ging ein heiteres Raunen. Es freut uns ja, wenn die Mächtigen einmal Schwächen zeigen. Nämlich die Löwinnen seien es, die das Rudel vor Angreifern verteidigten und nachher den Männchen deren Feigheit nicht übelnähmen.

Zum Beweis ließ er das Licht im Saal löschen und über die Leinwand flimmern, was er gedreht hatte: Mutter und Vater Löwe beim Akt; in einiger Entfernung die weibliche Verwandtschaft mit den Kindern. Jemand hustete. Ein Mann. Dann ging das Licht wieder an. Der Mann hustete noch immer. Vorne, in der dritten Reihe. Neben ihm saß seine Frau. Er hustete zunächst einmal leise und in kleinen Abständen, so daß sich allgemein die Hoffnung breitmachte, er würde von allein aufhören können. Er konnte aber nicht. Man sah hin. Und wieder weg. Die Frau sah in ihren Schoß. Dabei hüstelte es aus ihm heraus. Sie wandte sich ab. Er zog sein Taschentuch. Sie betrachtete zunächst ihre Fingernägel und dann den Vortragenden.

Wie wir gerade gesehen hätten, beiße der Löwe beim Begatten die Löwin in den Nacken. Kleine Pause. Der Redner nahm einen Schluck Mineralwasser aus seinem Glas. Erneutes Husten aus der dritten Reihe. Dabei tue der Löwe nur so, als ob er es täte. Er fletsche die Zähne, beiße aber nicht wirklich zu. Das mache er bloß zu ihrer Beruhigung, damit sie wisse, er sei in jeder Lebenslage kampfbereit. Dabei stieß dem Redner das Mikrofon gegen die Stirn. Das Rudel im Saal schluckte auch das.

Der hustende Artgenosse konnte kaum noch japsen. Wieviel Gewaltbereitschaft steckt in einer solchen Überlebensgemeinschaft, wenn es um die Aufrechterhaltung völlig falscher, aber altvertrauter Zusammenhänge geht? Diese hier war bereit, den einen Störenfried an seinem Husten ersticken zu lassen, bevor sie dem König der Löwen da vorn die Flasche Mineralwasser genommen hätte. Geschweige denn seine Überzeugung.

Im egozentrischen Denksystem des Mannes hat sich über die Jahrhunderte eine Logik herausgebildet, die bei genauer Betrachtung nicht von hier bis da reicht, aber weiter und weiter getragen wird: Der Löwe hatte im Augenblick seiner Hingabe ein bißchen an ihrem Kragen geknabbert, um sich zu vergewissern, daß er auch noch alle Zähne beisammen hatte, was ihm in diesem Moment gar nichts half. Gerade darum. Vorhin hatte er auch nicht gekonnt, als sie das Rudel verteidigte mit wahrhaft großem Löwinnenmut, den es von uns endlich zu entdecken gilt.

Sie aber lag nun da und nahm ihn nach gewonnener Schlacht lässig entgegen.