Geraubte Kindheit

Sie schuften in den Kohlenminen Kolumbiens. Sie plagen sich in den Schieferbrüchen Indiens, in den Werkstätten ägyptischer Kupferschmiede und bei der Jasminernte im Nildelta – Arbeiter, sieben oder zehn Jahre alt. Dies ist Alltag für Hunderte Millionen Kinder in allen Teilen der Welt. Die Fotografin Marie Dorigny dokumentiert das Leid der Mädchen und Jungen, die eines niemals erfahren haben: das Recht auf Kindheit.

Hari Shanker ist neun. Zwölf bis vierzehn Stunden täglich schleift er Glas – ausgetrocknet, erschöpft, von giftigen Dämpfen umgeben.

Nachts muß der Jasmin gepflückt werden, wenn die Duftessenz am reinsten ist. Barfuß, von Mücken gequält, steht das Mädchen im Schlamm des Nildeltas.

Carlos Barrera ist dreizehn. Kinder schuften als Grubenarbeiter in den tiefsten und engsten Stollen kolumbianischer Kohlenminen.

Ahmed ist zehn. Er poliert Kupfergefäße, die, prachtvoll schimmernd, auf Ägyptens Märkten verkauft werden. Der feine Metallstaub frißt sich in die Haut.

Nargis ist sieben. Schiefergriffel in Schachtel schichten, Schachtel zukleben. Füllen, zukleben. Immer und immer wieder.

Im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh brechen Kinder den Schiefer, transportieren ihn zu den nahe gelegenen Werkstätten. In dichte Staubwolken gehüllt, zerschneiden sie die Platten, schichten die Stäbchen und packen sie ein. „Stadt der Witwen“ heißt dieser Ort, weil die Männer hier vor dem vierzigsten Lebensjahr an Lungenkrankheiten sterben. Allmählich sterben auch die Frauen am Schieferstaub. Und dann folgen die Kinder.

Wo die Eltern zu arm sind, ein Stückchen Land zu kaufen, bleibt nur diese Arbeit.

Vijay ist acht. Vielleicht schon neun. Er war fünf, als ein Mann kam und ihn kaufte. Für fünfhundert indische Rupien, etwa dreißig Mark, und das Versprechen, daß der Junge ein Handwerk lernen wird. So wurde er Leibeigener. Selbstverständlich wird er das Darlehen, das der Familie vorab gegeben wurde, zurückzahlen müssen. Ein paar Monate Arbeit als Gegenwert für diese Schuld. Oder ein paar Jahre ...

Heute erinnert er sich an nichts. Er hat vergessen, wie sein Dorf heißt, wie die Stimme seines Vaters und seiner Mutter klang. Er arbeitet nur noch, Tag und Nacht vor dem Knüpfrahmen, bis er vor Erschöpfung in der Werkstatt einschläft, zusammengerollt, mit Säcken zugedeckt.

Selbstverständlich ist es in Kolumbien verboten, Jugendliche unter sechzehn Jahren in den Schächten zu beschäftigen. Hier in Boyaca arbeitet, ob illegal oder nicht, die ganze Familie gemeinsam in der Grube. Kinder wie Carlos Barrera beladen und schieben die Karren. Sie transportieren die Holzbalken, mit denen die gefährlichen Stollen tief im Berg abgestützt werden. Zehn Stunden täglich im schwarzen Staub und im Schatten der Schlagwetter. Für einen Hungerlohn, wenn sie für Fremde arbeiten. Gerade um satt zu werden, falls ihre Väter sie beschäftigen. Die Kohlenminen sind ihr Alltag und ihre Zukunft.

Fotos aus: „Kinder in Ketten“ von Marie Dorigny und Sorj Chalandon, Ariston Verlag, Genf/München