Muscheln Münzen Sammeltassen

Was treibt den Sammler eigentlich zu seinen Objekten? In drei Fallbeispielen gibt ein Psychoanalytiker Hinweise auf eine anthropologische Konstante  ■ Von Harry Nutt

Noch ehe er den Gipfel seines schriftstellerischen Ruhms erklommen hatte, erregte Honoré de Balzac Aufsehen mit seinem Spazierstock, dessen Prunkstück ein goldener, mit Türkisen verzierter Knauf war. „Diese kleinen, unschuldigen Marotten bringen mich in den Ruf eines Millionärs“, schreibt er in seinen Lettres à l'Etrangère. „Ich habe für die elegante Welt eine Sekte der ,Stockophilen‘ gegründet, und man hält mich für einen frivolen Menschen, das amüsiert mich!“ Balzac fuhr in einem eigenen Tilbury, die damals modische Kutsche mit zwei Pferden, und seine Wohnung war vollgestopft mit ausgewählten Möbeln, kostbaren Teppichen, Porzellan, Gemälden, Silber und allerlei Nippes. So rastlos wie beim Schreiben war er beim Ankauf neuer Sammelstücke. Ganz so unschuldig, wie der Dichter seine Marotten darstellte, waren sie allerdings nicht. Balzac war nämlich hoch verschuldet.

Probates Mittel gegen Einsamkeit

Ein anderer Sammler war Sir Thomas Phillips, der nach seinem Tode im Jahre 1872 die umfangreichste und bedeutendste Handschriftenbibliothek hinterließ, die es je gegeben hat. Bis heute hat das Auktionshaus Sotheby's in London und New York mehr als 60 Versteigerungen mit einem Erlös von Abermillionen Dollar veranstaltet. Die Schulden wuchsen Phillips über den Kopf, aber bis zuletzt setzte er jedes verfügbare Pfund in Bücher und Handschriften um. „Offenkundig bist du in schlechter Gesellschaft, denn Du warst noch nie so absurd ...“, schrieb er seiner Frau, nachdem sie ihn gebeten hatte, dem Sammeltrieb Einhalt zu gebieten.

In eindringlichen Porträts schildert der in New York lebende Psychoanalytiker Werner Muensterberger die Sammelleidenschaft von Balzac, Phillips, Petrarca und anderen, deren obsessives Anhäufen von Gegenständen ihre Lebensgeschichte dominierte. Was Sammler gern als simples Vergnügen zur Zerstreuung ausgeben, ist in der Lesart Muensterbergers immer auch ein Mittel, mit einer inneren Unsicherheit zu Rande zu kommen. Der Sammler bekämpft mit dem buchstäblichen Greifen nach Gegenständen die traumatische Erfahrung des Alleingelassenseins. Psychologisch gesehen, ist Sammelleidenschaft eine Reaktion auf früh erlittene narzißtische Enttäuschungen. „Sammler teilen das Gefühl, daß sie etwas Besonderes sind, daß sie einstmals nicht genug Liebe oder Aufmerksamkeit empfangen haben oder als kleines Kind verletzt und ungerecht behandelt worden sind. Dank ihrer Objekte empfinden sie sich bestärkt, bereichert und in gewissem Sinne als Ausnahme.“

In drei Psychobiographien – neben denen von Balzac und Phillips die eines persönlichen Bekannten – führt Muensterberger seine Psychologie des Sammelns anschaulich aus. Einmal mehr erweist sich die Narzißmustheorie als ergiebige Quelle beim Lesen von Zwangshandlungen, aber Muensterberger geht es keineswegs um die Entdeckung einer weiteren Sucht als Therapiegegenstand für seine Profession. Mehr jedoch als an der bloßen Zusammenstellung genuiner Suchtbiographien ist er an der anthropologischen Konstanz der unbändigen Leidenschaften am Jagen, Zusammentragen und Ordnen toter Gegenstände interessiert.

Alles dreht sich um tote Gegenstände

Daß sich beim Sammeln alles um tote Gegenstände dreht, ist wörtlich zu verstehen. Sammler sind immer auf der Jagd nach dem Mana, der magischen Kraft eines anderen. Der erste Sammelgegenstand waren Totenschädel, und erst durch Verbote und Regeln dämmte die katholische Kirche den Jahrhunderte währenden Reliqienkult ein. Indem sich der Gläubige den Schädel eines Vorfahren aneignet, verleiht er ihm ewige Existenz. Zugleich hofft er, dessen Unsterblichkeit werde auch auf ihn übergehen. Reliquien fungierten als schützende Macht. Etwas davon lebt im Sammelbildchen für Kinder fort.

Muensterberger reicherte seine Theorie des Sammelns mit weiteren ethnologischen Fundstücken an. So gehört es beispielsweise zu den Initiationsriten der Baree-Toradja von Zentral-Sulawsi, daß die Jungen während der Beschneidung auf einem Totenschädel saßen. Das neue Gemeinschaftsmitglied war der Besitzer eines machtgesättigten Schädels. Bei den Orang-Agung auf der Insel Sumatra war die Kopfjagd ein Beweis für Tatkraft und Leistung. Den Schädel eines getöteten Feindes mitzubringen, war die Voraussetzung zur Hochzeit, er diente als Hochzeitspokal.

Die christlich-abendländische Traditon hat viele Elemente solcher Riten übernommen. Die Reliquienverehrung mündete direkt in die Sammelleidenschaft, mit den Gebeinen Heiliger wurde ein reghafter Handel betrieben. So gesehen ist der Bravo-Starschnitt, mit dem die große Jugendzeitschrift einst ihre jungen Leser an das serielle Erscheinen des Blattes gewöhnte, eine Art papierner Reliquienhandel.

Muensterberger verhält sich zu seinem Gegenstand selbst wie ein neugieriger Sammler, der Wissensbelege aus verschiedenen Zeiten zusammenträgt. Die regressiven Aspekte des Sammelns, die in seiner Beschreibung dieser wundersamen Beschäftigung offen zutage treten, sind jedoch nur die eine Seite der anthropologischen Vignette Sammeln. Das Anhäufen und Ausstellen unbekannter Gegenstände erweitert das Wissen. Die althergebrachten Dinge geben Zeugnis und können über ihre Zeit befragt werden.

Nicht nur eine privatistische Marotte

Als sich die Kirche im Jahre 1300 mit einer päpstlichen Bulle gegen den schwunghaften Reliquienhandel wendete, versuchte sie vor allem auch, das Studium der Anatomie zu verhindern. Der mit dem Sammeln verbundene Hinzugewinn an Erkenntnis war zu einem politischen Machtfaktor geworden. Im 14. und 15. Jahrhundert sind Wißbegierde, Handelsinteressen und Sammelmanie oft nicht voneinander zu trennen. Letztendlich, so Muensterberger, spielte das Sammeln eine bedeutsame Rolle auf dem langen Weg zur Individualisierung, und die Wissenschaft bezog ihre Lust am Ordnen und Klassifizieren maßgeblich aus der Sammelleidenschaft. Daß Sammeln eben nicht bloß eine privatistische Marotte ist, sondern die Reaktion auf ein kollektives Trauma sein kann, erzählt Muensterberger in einem Kapitel über das Holland des 17. Jahrhunderts. Nach Jahrzehnten spanischer Fremdherrschaft setzte gegen Ende des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden eine Prosperitätsphase ein, in der der Ankauf dekorativer Objekte den Lebensstil des holländischen Bürgers prägte. „Es ist kaum zu bezweifeln, daß die Jahrzehnte der Fremdherrschaft und Unterdrückung, des Krieges und Hungers den eigensinnigen Bürgern den Wert sicht- und greifbarer irdischer Dinge gelehrt haben. [...] Das mühsam gewonnene Gefühl der Sicherheit und Stabilität, das sich nun mit der calvinistisch- und mennonitisch-puritanischen Ethik von Fleiß und Sparsamkeit verband, führte in ein Jahrhundert unvergleichlicher Errungenschaften, einer außergewöhnlich fruchtbaren künstlerischen Kreativität, ästhetischer Perspektiven und eines breiten kulturellen und wissenschaftlichen Fortschritts. [...] Die Mode, sich Gemälde, Kunstwerke jeder Art und dekorative Objekte zuzulegen, erscheint als eine Reaktion auf viele leidvolle Jahre.“ Ein Beispiel für die irrationale Kehrseite des Sammelns ist die holländische Tulpenmanie, die über einige Jahre das niederländische Handelswesen auf den Kopf stellte.

Werner Muensterbergers kenntnisreiche wie, im positiven Sinne, eklektizistische Interpretation des Sammelns schärft den Blick für eine tief in unserer Kultur verankerte Alltagspraxis. Nach der Lektüre des Buches jedenfalls wird man das Sammeln, in welcher Form auch immer, weder als einen rein psychischen Effekt noch als harmlose Beschäftigung zur schlichten Zerstreuung bewerten können.

Werner Muensterberger: „Sammeln – Eine unbändige Leidenschaft“. Aus dem Amerikanischen von H. Jochen Bußmann. Berlin Verlag, Berlin 1995, 412 Seiten, 49,80 DM.

Alle Abbildungen aus dem Auktionskatalog: „Trödler & Sammeln", Gemi Verlags GmbH.