„Linke sind heute überangepaßt“

■ Zoff und Einmütigkeit auf dem Gewerkschaftstag der IG Medien. Die digitale Revolution zwingt zu Reformen

Bielefeld (taz) – Ihr Einfluß nimmt stetig ab, Finanz- und Personalnöte machen ihr ebenso zu schaffen wie anderen Gewerkschaften. Kein Wunder also, daß Krise und Reform der Gewerkschaft im Mittelpunkt des Gewerkschaftstages der IG Medien in Bielefeld stehen. In den letzten 20 Jahren hatte die Organisation schon manches zu verkraften. Dennoch lebt die Gewerkschaft vom Glauben, im Kern gesund und stark zu sein. Denn immerhin handelt es sich doch bei den Druckern um die Avantgarde der Arbeiterbewegung, die in Politik und Arbeitskämpfen immer wieder Schrittmacherin war.

Doch diese Avantgarde, die in Bielefeld noch 257 von 403 Delegierten stellt, zerfällt. Vor allem die Erfahrungen im Streik der Tarifrunde 1994 tragen dazu bei. Erstmalig hatte die Gewerkschaft keines ihrer hochgesteckten Ziele erreicht, sondern nur den Status quo verteidigt. Im Vergleich kein schlechtes Ergebnis, für die Drucker aber eine empfindliche Demütigung, zumal der Abschluß dauerhafte Veränderung anzeigte. Die Gewerkschaftsfunktionäre hatten die Lage gerade unter ihren Kollegen und Kolleginnen gefährlich falsch eingeschätzt. Auf dem Gewerkschaftstag erfolgte nun die Abrechnung.

Der Vorsitzende Detlef Hensche hatte im Vorfeld versucht, sich durch den Sprung nach vorn zu retten. Er übte Selbstkritik am Realitätsverlust. Doch die Aktiven fühlten sich vorgeführt, als die Dummen bloßgestellt und geohrfeigt. Viele warfen der IG Medien Verrat vor. Doch letztendlich offenbarte die Debatte lediglich: Die Drucker wissen nicht mehr weiter. Sie unterstellten anderen die Kapitulation und kapitulierten doch selbst. Sie werfen anderen den Kurswechsel vor, den sie wohl als notwendig erahnen, aber nicht wahrhaben wollen.

„Unsere bisherige Produktionsweise ist am Ende. Die digitale Revolution läßt uns keine berufliche Nachfolge. Überall nagt der Personalfraß“, schildert ein Delegierter die Lage. Dabei stellte sich heraus, daß der Spaltpilz schon länger im Innern wucherte: Die Gewerkschaft hat den Anschluß an die Betriebsräte längst verloren. Sie zeigt wenig Kompetenz für die Anforderungen der Zeit. Flächendeckend betriebsnah und lebendig ist sie längst nicht mehr. Tarifverträge greifen nicht mehr für heutige Notwendigkeiten, und Vorsitzende der Vorstände treffen einsame Beschlüsse.

Die meisten Diskutanten reagierten, indem sie sich aufbäumten oder nach Blitzableitern suchten: „Linke sind heute überangepaßt“, lautetet ein Vorwurf. „Wenn wir zurückweichen, wird die Gewerkschaft an der Wand zerschellen“, betonte ein anderer. Und das Fazit eines alten Genossen war: „Was da geschieht, ist zwangsläufig eine Gesetzmäßigkeit, die Ursache liegt im Kapitalismus, davon weiche ich nicht ab.“

Doch es gab auch Stimmen, die fragten, „was wir selbst falsch gemacht haben“, oder dafür plädierten: „Trauen wir uns, auf unbekannten Wegen zu gehen!“ Dogmatiker gibt es noch, aber sie sind ohne Einfluß. Die Betriebsfunktionäre bleiben derweil pragmatisch, der Apparat weiß um den Druck zur Modernisierung. Und die Reformwilligen in der IG Medien haben zwar spät, aber jetzt immerhin etwas zu sagen. Sie betonen die Notwendigkeit neuer Basisarbeit in den Betrieben. Sie fordern die Arbeit mit arbeitslosen Frauen und ungeschützt Arbeitenden, die nicht in den Betrieben vertreten sind. Roter Faden vieler Diskussionen war die Suche nach einem außerbetrieblichen Standbein für gewerkschaftliche Arbeit.

In Bielefeld bemühten sich die Delegierten bereits um neue Arbeitsformen. Moderne Bilder, Diskussionsforen mit Input, ein Referat von Oskar Negt schufen Raum für entspanntere und sachlichere Debatten und trugen somit zur Rationalisierung der Konflikte bei. Die anfängliche Depression wich dem Leben mit der Krise. Als erstes beschloß der Gewerkschaftstag eine Organisationsreform. Demokratie und Selbstorganisation werden betont, der Einfluß der Ehrenamtlichen und Frauen soll gestärkt werden, Konsensverfahren und Minderheitsvoten wurden vereinbart, Gremienarbeit und Bürokratie reduziert, Projektgruppen und Mitgliederentscheid eingeführt, Flexibilität in der Arbeit ist bis zur Spitze vorgesehen. Mechtild Jansen