Von Justiz verzweifelt gesucht: Schöffen

Ein Ehrenamt, das keiner will: Es wird immer schwerer, Freiwillige zu finden, die „im Namen des Volkes“ über Schuld und Sühne mitentscheiden wollen. 8.500 Schöffen werden benötigt  ■ Von Barbara Bollwahn

Die Augenlider von Conrad Ernst* drohen runterzuklappen. Seit zwei Stunden läßt er monotone Angaben zu technischen Gutachten in sein rechtes Ohr rein und aus dem linken wieder raus. Die Ellenbogen fest auf dem Tisch über Kreuz verschränkt, kämpft er gegen den Schlaf. Conrad Ernst ist Schöffe am Landgericht. Wesentliche Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft kennt er nicht. Darf er nicht kennen. Denn allein aus der Hauptverhandlung soll der 52jährige Gärtner, der das Vertrauen in die Rechtsprechung stärken soll, seine Meinung über den Angeklagten bilden.

Doch ob der Mann im karierten Hemd überhaupt Interesse daran hat, zusammen mit dem Richter in schwarzer Robe über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu entscheiden, danach wurde Conrad Ernst nicht gefragt. Weil er weder dem Bundestag noch dem Bundesrat oder dem Europäischen Parlament angehört, noch nicht vierzig Mal als Schöffe seine Pflicht getan hat, nicht Arzt oder Krankenpfleger ist, eine weiße Weste hat und noch weit entfernt ist von der Höchstaltersgrenze von siebzig Jahren, konnte er gegen seine „Auslosung“ aus dem Melderegister in Moabit nichts machen. Denn das Schöffenamt ist ein Ehrenamt und verpflichtet zur Annahme.

Derzeit läuft in den Bezirken der Countdown für die neue Schöffenwahlperiode. Bis Ende Oktober müssen 8.500 neue Schöffen gefunden sein, die ab 1997 für vier Jahre bereit sind, bei Strafverfahren vor Amts- und Landgerichten und bei Verhandlungen vor Arbeits-, Sozial-, Finanz- und Verwaltungsgerichten als Laienrichter zu fungieren.

Die meisten Bezirke aber haben Probleme, ihr Soll auf freiwilliger Basis zu rekrutieren. Kurz vor dem Stichtag haben die meisten Bezirke erst einen kleinen Teil Freiwilliger beisammen. Der Bezirk Zehlendorf beispielsweise, der insgesamt fast 500 Schöffen und Hilfsschöffen stellen muß, zählte Anfang des Monats nur etwa dreißig Interessenten.

Eigentlich verlangt die Senatsverwaltung für Justiz von dem Bezirk nur 250 Schöffen. Doch weil nicht jeder Bewerber auch geeignet ist, muß die doppelte Anzahl gestellt werden. Im Ostberliner Bezirk Mitte sieht es ähnlich aus. Dort haben erst fünfzig Männer und Frauen ihr Interesse bekundet. Doch das Bezirkseinwohneramt braucht fünfhundert Schöffen und die Mitarbeiter wissen genau, daß die Vorstellung von 500 Freiwilligen nur ein Wunschtraum bleibt.

Fehlen Freiwillige, entscheidet der Computer darüber, wer unter dem Motto „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ mit auf der Richterbank sitzt. Dann erstellt das Landesamt für Elektronische Datenverarbeitung aus dem Einwohnermelderegister des jeweiligen Bezirkes eine Liste nach dem Zufallsprinzip.

Nach einer grundlegenden Entscheidung des Bundesgerichtshofes von 1991 ist es jedoch unzulässig, die Vorschlagsliste nur nach dem Zufallsprinzip zu erstellen. Doch in der Rechtsprechung wurde noch nicht abschließend geklärt, nach welchen Kriterien die Bezirksverordnetenversammlung die Vorschlagsliste aufzustellen hat.

Doch auch in der anstehenden Schöffenwahlperiode wird man nicht darauf verzichten können, mit dem Zufallssystem zu arbeiten. Denn auch wenn die Senatsverwaltung für Justiz bereits Ende August die Senatsverwaltung für Inneres damit beauftragt hat, über Gewerkschaften, Unternehmerverbände, soziale Dachverbände und Kirchen eine individuelle Vorauswahl geeigneter Personen zu treffen, glaubt Andreas Puskas, Referatsleiter bei der Innenverwaltung, nicht an einen durchschlagenden Erfolg: „Ich befürchte, daß sich die Meldungen der Verbände und Vereinigungen in Grenzen halten werden.“ Puskas befürchtet, daß die Weiterleitung allgemeiner Aufrufe kaum etwas bewirken kann, wenn diese nicht durch „Vorortaktivitäten“ ergänzt werden. Und diese könne die Innenverwaltung nicht leisten.

Wie auch bei der Justizverwaltung und den Bezirken macht sich bei Puskas Ratlosigkeit breit: Wie können möglichst viele Freiwillige für das Schöffenamt gewonnen werden? Als Gründe für die Schwierigkeiten bei der Suche nennt Puskas fehlendes Engagement in der Anonymität der Großstadt und die Berliner, die mit „Vereinsmeierei“ wenig am Hut haben. In kleinen Städten funktioniere die verbandsbezogene Arbeit eben besser als in einer Metropole. Es könne aber keineswegs schaden, so Puskas weiter, wenn sich die Senatsverwaltung für Justiz selbst „offensiver“ engagieren würde. „Es ist halt schwer“, nimmt er den Hauch von Kritik im gleichen Atemzug etwas zurück.

Hasso Lieber, Vorsitzender des Bundes-Beirates der Deutschen Vereinigung der Schöffen, erhofft sich von der Schöffensuche bei Verbänden und Vereinen eine „Gewährleistung für gewillte Leute“: „Hinz und Kunz können nicht über andere richten“, schimpft Lieber, der vierzehn Jahre lang in Nordrhein-Westfalen als Richter gearbeitet hat. „Ich bin ein gnadenloser Verfechter der Laienbeteiligung“, so Lieber weiter, „ich bin aber ebenso ein gnadenloser Verfechter einer qualifizierten Schöffenbeteiligung“.

Wenn allerdings viele Schöffen nicht einmal wissen, daß sie ebenso wie Richter und Staatsanwälte während der Verhandlung das Recht haben zu fragen, stellen sich Rechtsanwalt Hasso Lieber die Haare zu Berge. „Das ist schlichtweg ein Skandal.“ Deshalb fordert Lieber eine umfassende Einführung der Schöffen in ihr Amt und fortführende Informationsveranstaltungen. Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit (SPD) kündigte bei einem Berlin-Brandenburger Schöffenabend Mitte September die Herausgabe einer „Schöffenfibel“ im Herbst an und versprach eine „bessere Aufklärung über die Rechte und Pflichten“ der Laienrichter, mehr Informationen über Entscheidungsalternativen und über die möglichen Folgen einer zu treffenden Entscheidung.

* Name von der Red. geändert