■ Daumenkino
: 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls

71 abrupte Szenen, kaum geschnitten, dazwischen Schwarzblenden. Kino in Rohform. Zu sehen sind Menschen im Alltag, ein rumänischer Flüchtlingsjunge, ein Geldkurier, ein Rentner, eine Bankangestellte, ein Student. Sie haben nichts miteinander zu tun, außer am Schluß: Da betritt der Student die Bank, schießt wahllos um sich und trifft den Geldkurier und ein paar andere. Danach setzt er sich ins Auto, gegenüber an der Tankstelle, und jagt sich eine Kugel in den Kopf. Der Tankwart zum Tatmotiv: „Keine Ahnung. Tja, Wahnsinn.“

Am nächsten Tag ist Weihnachten. Michael Jackson beteuert im Fernsehen, er sei unschuldig. Vollkommen unschuldig. Michael Haneke zeigt die Tage davor. Er zeigt die Mechanik des Zufalls, der Täter und Opfer in die Bank führt und daß die Rollen genausogut vertauscht sein könnten. Dazwischen TV- Nachrichten: Somalia, Haiti, Irland, Türkei, Nahost, Bosnien. Überall ist Bürgerkrieg.

In den Wohnungen Menschen, die morgens auf dem Klo beten, im Halbschlaf Kaffeewasser aufsetzen oder sich beim Abendessen anschweigen. Nichts ist beklemmender, als Menschen in einem Haneke-Film beim Essen zuzusehen. Die Dinge in diesem Film – Socken, verschissene Windeln, Gasanzünder, Monitore – sind unansehnlich, die Orte grau und ohne Erbarmen: ein Waisenhaus, ein Studentenwohnheim, Fußgängerzonen, Behördenflure. Einmal übt der Student Tischtennis. Eine Maschine wirft die Bälle, schnell und unregelmäßig, der Spieler muß kontern, Sisyphusarbeit, ein Hamster im Rädchen, minutenlang.

Der Regisseur Michael Haneke (Jahrgang 1942) wurde für Der siebente Kontinent (1988), den ersten Film seiner Trilogie über die „emotionale Vergletscherung“ und für Bennys Video (1991) ausgezeichnet. „71 Fragmente“ war erstmals 1994 in Cannes zu sehen. Chp

Regie: Michael Haneke.