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Schönsein ist das Wichtigste

Die Menschen wohnen ohne Wasser und Strom, aber vornehm. Rios Armenviertel sind für Kosmetikverkäuferinnen von „Avon“ eine Goldgrube  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

Marly Rodrigues de Sá greift an. Wenigstens für einen kurzen Augenblick gelingt es ihr, den penetranten Geruch von Kot und Urin zu verscheuchen. Entschlossen besprüht die sechzigjährige Chefverkäuferin von „Avon“ ein Rinnsal menschlicher Abwässer mit Parfüm.

Bevor sie an die Tür der potentiellen Kundin in dem Armenviertel „Travessa dos Campeoes“ klopft, benetzt sie sich selbst mit einer blumigen Essenz und bekämpft die vielfältigen Gerüche, die in der Luft liegen, mit einer süßlichen Duftwolke. „Wenn ich sagen würde: ,Ich bin von Avon, wollen Sie etwas kaufen?‘, wäre die Antwort sofort nein“, weiß die Regionalleiterin aus Berufserfahrung. „Statt dessen frage ich die Kundin, wie ihr der Duft gefällt.“

Die Verführung von Frau zu Frau funktioniert. Wenn Marly Rodrigues nach ein paar Tagen erneut vor der Tür steht, sind die von ihr zurückgelassenen Prospekte voll von Bestellungen. Marly Rodrigues ist „verliebt“ in Rios Favelas. In den Armenvierteln rund um den Zuckerhut lebt ein Drittel der über sechs Millionen „Cariocas“, wie sich die BewohnerInnen Rios nennen. Für Kosmetikvertreterinnen sind die Favelas eine Goldgrube. „Ich zeige den Frauen, wie sie ihre Haut reinigen oder Schönheitsmasken auflegen“, erzählt sie stolz.

Die Regionalleiterin preist ihren Arbeitgeber als Instrument des sozialen Aufstiegs. „Eine erfolgreiche Avon-Beraterin baut binnen kürzester Zeit ihr zweites Stockwerk und kauft noch vor ihrer Nachbarin einen Farbfernseher. Das macht Eindruck“, meint sie.

Für ihr Heer aus 700 Verkäuferinnen und elf Verkäufern hat sie nur lobende Worte übrig: „Ich habe Beraterinnen, die Avon pro Monat 2.000 Dollar zahlen, ein Drittel davon ist Kommission“, beschreibt sie die Verdienstmöglichkeiten für Favela-Bewohnerinnen, die daran gewöhnt sind, in den Kategorien des brasilianischen Mindestlohnes von umgerechnet 180 Mark zu rechnen.

Die besten Kundinnen des US- amerikanischen Kosmetikkonzerns sind seine Beraterinnen. Über 450.000 Vertreterinnen klingeln sich in Brasilien von Haustür zu Haustür – von der 16-Millionen- Metropole São Paulo bis zu entlegenen Indianerstämmen per Einbaum im Amazonas.

Der Kosmetikkonzern, der seine Produkte nur über Katalog vertreibt, erzielt in Brasilien beeindruckende Erfolge: In den vergangenen fünf Jahren steigerte Avon seinen Umsatz in dem größten lateinamerikanischen Land von 330 Millionen Dollar auf 790 Millionen Dollar.

Der Schlüssel des Verkaufserfolgs ist die Eroberung der Favelas. Im Labyrinth enger Gassen und notdürftiger Behausungen ohne offizielle Adresse haben Vertreterinnen verschiedenster Versandfirmen ein Verkaufsparadies entdeckt. Das Geheimnis: Favela-Bewohnerinnen schotten sich nicht hinter hohen Mauern und elektronischen Sprechanlagen gegen unerwünschten Besuch ab. Hier sind die Türen offen, die Rolläden aufgeklappt. Beim täglichen Schwatz mit der Nachbarin dienen Haustreppe und Vorgarten als Wohnzimmerersatz. Die lockere Verkaufsatmosphäre schlägt in den Firmenbilanzen eindeutig zu Buche: Avon erwirtschaftet 80 Prozent seines Umsatzes in den Armenvierteln.

Regionalleiterin Marly Rodrigues verdankt den Bewohnerinnen von 16 Armenvierteln, die sie seit 23 Jahren regelmäßig abgrast, sogar 90 Prozent ihrer Einnahmen. „Die Frauen aus den Vororten kaufen sehr viel. Sie schminken sich und wollen wie eine vornehme Dame aussehen“, meint Beraterin Sueli Lopes Magalhaes. Hinter dem Make-up versteckten sie ihre soziale Herkunft. „Wenn meine Putzfrau Lippenstift auflegt und sich anzieht“, erklärt die Beraterin, die selbst in einer Favela wohnt, „ist sie keine Putzfrau mehr.“

Favela-Bewohnerin Josefa da Silva aus Rios Nachbarstadt Niteroi empfindet es geradezu als Beleidigung, ihr zu unterstellen, Geld für teure Kosmetika zu verschwenden. „Wer nicht wohlriechend das Haus verläßt, tut dies nicht aus Geldmangel“, meint die eitle Großmutter von acht Enkeln. Um sämtlichen Vorurteilen über mangelnde Hygiene in Rios Armenvierteln einen Riegel vorzuschieben, holt sie aus ihrem Nachtschrank acht verschiedene Parfüms sowie zahlreiche Deostifte und Hautcremes hervor und stellt sie auf den Küchentisch.

Das Haus von Josefa da Silva ist die feste Anlaufstelle von Avon- Beraterin Silvia Leite (Name von der Redaktion geändert). Die von ihr angeworbene Enkelin Patricia verkauft dort alle zwei Wochen 60 Produkte an ihre Nachbarinnen. Für ihre Tätigkeit als „Leader“, wie im Branchenjargon die Beraterinnen genannt werden, die neue Vertreterinnen anwerben, ist die 51jährige hauptberufliche Krankenschwester mit Prämien überschüttet worden. Im Hinterhof ihrer kleinen Wohnung direkt am Fuße der Favela „Vila Ipiranga“ stapeln sich Handtücher, Bügeleisen, Mixgeräte, Staubsauger und Schüsseln. Sogar einen Kühlschrank hat ihr die Firma für ihre herausragenden Umsatzleistungen vermacht.

Doch die anfängliche Begeisterung über die zahlreichen Werbegeschenke hat sich inzwischen gelegt. „Ich will keine Geschenke mehr, sondern Geld“, beschwert sich Silvia Leite. Regelmäßige Gehälter zahlt das US-amerikanische Versandhaus, das seit 1959 in Brasilien vertreten ist, nur seinen rund 3.000 Angestellten. „Die Regionalleiterinnen bekommen ein dickes Gehalt, für eine Leader springt monatlich nicht mehr als 400 Mark raus“, lautet die bittere Bilanz von Silvia Leite. Dennoch wird sie nicht müde, Brasilianerinnen aus bescheidenen Verhältnissen zu erzählen, wie spielend sich ein Avon- Taschengeld verdienen läßt.

Bei 35 Grad im Schatten ächzt die Großmutter im Rio-Vorort São Goncalo einen steilen Hügel hinauf und macht an der erstbesten Hütte halt. „Schätzchen, willst du nicht für Avon verkaufen?“ Eine von Entbehrungen gezeichnete Frau, zwischen deren Beine sich drei Kinder drängen, guckt Silvia Leite verwundert an. In der Hütte gibt es keinen Strom und kein Wasser. Ein schwarzer strubbeliger Hund schnuppert an einer Plastikschüssel mit Essensresten aus Reis und Bohnen und rümpft die Nase. „Du brauchst ja nicht gleich zu übertreiben, es reicht, wenn du dir den Dampfdruckkochtopf sicherst“, insistiert sie ohne Aussichten auf Erfolg.

Bei der Nachbarin, die im Vorgarten ihre Wäsche aufhängt, hat sie mehr Glück. Alzira da Costa Silva hat bereits vor Jahren einmal Erfahrungen als Vertreterin gesammelt. „Damals habe ich viele Prämien eingeheimst“, erzählt die 38jährige Hausfrau. „Kann ich jetzt ohne weiteres wiedereinsteigen?“

Nicht nur Avon schickt Vertreterinnen in Rios Elendsviertel. Eine Legion von „selbständigen“ Verkäuferinnen versorgt dort die Frauen mit Kosmetika, Miederwaren, Kleidung, Schmuck, Tupperware und allem erdenklichen Hausrat. Die brasilianische Vereinigung für Versandfirmen, „Domus“, rechnet in diesem Jahr mit einem Branchenwachstum von 25 Prozent. Dies bedeute einen zusätzlichen Personalbedarf von 237.000 Vertreterinnen.

Beraterin Sidineia Rosa aus der Favela „Morro Santo Cristo“ bekam bereits am eigenen Leib zu spüren, daß sich diese Art von Nebenverdienst nicht immer als Vorteil erweist. „Ich verkaufe nur noch an Leute, die bar zahlen“, stellt die 29jährige klar. Sie habe keine Lust mehr, auf den Bestellungen von Kundinnen in finanziellen Schwierigkeiten sitzenzubleiben.

Die geringen Einkommen scheinen der Erfüllung spezieller Wünsche nicht im Wege zu stehen. Avons Verkaufsschlager in Brasilien ist die Verjüngungscreme „Renew“ für umgerechnet 50 Mark. Ein Drittel des Umsatzes machen Parfüms verschiedener Preisklassen aus. Die brasilianische Angewohnheit, mehrmals täglich zu duschen und sich stets in eine angenehme Duftwolke zu hüllen, erklärt die Vorliebe für Parfüms in dem tropischen Land.

Doch warum kaufen die Einwohnerinnen Rios anscheinend lieber per Katalog anstatt in der Drogerie um die Ecke? Regionalleiterin Marly Rodrigues hat die Antwort sofort parat: „Die Cariocas sind bequem, sehr bequem“, ist sie überzeugt. Warum sich mühsam in ein Geschäft begeben, wenn Verkäuferinnen und Ware direkt ins Haus kommen? „Der Preis“, weiß Marly Rodrigues, „ist nicht ausschlaggebend.“

Für die Schönheit ließen sich immer wohlhabende Spender finden. Daß Schönheit für Erfolg im Leben eine unabdingbare Voraussetzung ist, lernen die Mädchen schon im zarten Kindesalter. „Ich habe schon gedacht, daß Schönheit das Wichtigste im Leben ist“, gibt Edilaine da Silva unumwunden zu. Jetzt ist sie davon überzeugt, daß es auf beides, auf Schönheit und auf Bildung, ankommt.

Neben der Schule, der sie drei Jahre lang den Rücken zugekehrt hatte, bereitet sich Edilaine nun in einem Kurs für Fotomodelle auf eine Karierre auf dem Laufsteg vor. „Ich zähle nicht mehr, wie oft ich in den Spiegel gucke“, meint die 17jährige charmant. Sie widme sich „ununterbrochen“ ihrer Schönheit.

Edilaine da Silva stammt aus „Vigario Geral“. Die Favela aus Rio de Janeiro geriet im August 1993 international in die Schlagzeilen, weil bei einem Massaker 21 unschuldige Bewohner erschossen worden waren. Trotz chronischen Geldmangels steht Edilaine in bezug auf Körperpflege ihren Altersgenossinnen aus der wohlbehüteten Mittelschicht in nichts nach. Nur auf kostenaufreibende Besuche bei Schönheitschirugen und Friseuren verzichtet sie. Edilaine: „Die Haare schneide ich mir selber.“

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