Russische Juden proben den Aufstand

Die fast nur aus russischen Zuwanderern bestehende Jüdische Gemeinde in Halle setzte nach unzähligen Querelen den alten – sie diskriminierenden – Gemeindevorstand ab  ■ Aus Halle Sylke Tempel

Eigentlich könnte sich der promovierte Landwirt Gunther Helbig freuen. Als er 1990 zum Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Halle gemacht wurde, zählte sie gerade sieben Mitglieder. Heute sind es über 100, die meisten davon russische Zuwanderer. Jetzt proben diese den Aufstand und wollen ihren Vorsitzenden loswerden. „Man hat uns eingeladen, hier zu leben“, sagt Peter Golditsch, der vor vier Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion kam und nun in Halle einen „Aktiven Beirat der Zuwanderer“ gegründet hat. „Überall haben wir Hilfe bekommen. Nur in der jüdischen Gemeinde kümmert man sich nicht um uns.“

Was in anderen Gemeinden Sachsen-Anhalts reibungslos klappt, ist in Halle unmöglich. In Magdeburg und Dessau werden Gemeindeversammlungen ins Russische gedolmetscht und die Zuwanderer in den Vorstand gewählt. Nichts davon in Halle, denn dort pflegt der Vorsitzende ganz eigene Vorstellungen von der Integration der russischen Juden, die meist nur schlecht oder gar kein Deutsch können. „In unserer Gemeinde wird Hochdeutsch gesprochen, nicht einmal gejiddelt“, meint Helbig. Die Bitte um Dolmetscher lehnte er mehrmals strikt ab, „aus Sicherheitsgründen“ sogar eine Übersetzung des Gemeindestatuts ins Russische. „Als Jüdische Gemeinde sind wir gefährdet. Wenn ich die Satzung mit den Wahlmodalitäten den Zuwanderern aushändigen lasse, weiß ich nicht, in wessen Hände sie geraten könnte.“

Überhaupt regiert der Gemeindevorsitzende Helbig mit ungewöhnlichen Methoden. „Seit zwei Jahren“, moniert Gudrun Goeseke, die bis vor kurzem ehrenamtlich die kleine Gemeindebibliothek betreute und sich im „Aktiven Beirat der Zuwanderer“ engagiert, „wurde keine ordentliche Mitgliederversammlung abgehalten, kein Vorstand gewählt und niemals über die Statuten der Gemeinde abgestimmt. Dieser noch zu DDR-Zeiten eingesetzte Vorsitzende hat sich ein eigenes Statut gezimmert und sich mit einem BAT-Gehalt ausgestattet. Wenn im Gemeindebüro Bemerkungen fallen, wie ,man sollte die Zuwanderer alle mit Knüppeln in Güterwagen treiben und in den Osten abschieben‘, ist ein zustimmendes Lächeln seine Antwort.“

Kein Wunder also, daß die Bitte des „Aktiven Beirates“, endlich eine Versammlung einzuberufen und einen Vorstand zu wählen, von Helbig ignoriert wurde. „Ich bin laut Satzung von 1993 für vier Jahre gewählt worden. Wir leben in einem Rechtsstaat, das müssen auch die Zuwanderer akzeptieren, die im Unterbewußtsein noch das Sowjetreich mit sich bringen und wohl Demokratie mit Anarchie verwechseln“, sagt er.

Mit der Demokratie aber hält es der Vorsitzende selbst nicht so genau. Die angebliche Wahl vor zwei Jahren fand nämlich gar nicht statt, meint Gudrun Goeseke, die wegen ihres Engagements für die Zuwanderer die Gemeinderäume nicht mehr betreten darf. Denn bevor es damals zu einer Wahl kam, habe man sich über die Zustimmung zu einer neuen Satzung zerstritten, die nämlich eine Verlängerung der Amtszeit des Vorsitzenden von zwei auf vier Jahre vorsah. „Diese Satzung ist damals angenommen worden, das haben die Zuwanderer auch ohne Dolmetscher verstanden“, meint hingegen Gunther Helbig.

Der Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden Sachsen-Anhalt, Peter Ledermann, ist da anderer Meinung. Er stoppte damals die Auszahlung der im Staatsvertrag garantierten Zuschüsse an die Jüdische Gemeinde Halle, weil der „Vorstand mangels Wahl nicht mehr handlungsberechtigt ist“. Letzten Sonntag nun, schritten etwa 70 Gemeindemitglieder selbst zur Tat. Da den meisten von ihnen der Zutritt zu den Gemeinderäumen verwehrt wird, versammelten sie sich am Denkmal der während der „Reichskristallnacht“ 1938 zerstörten Synagoge und wählten – strikt nach Tagesordnung, unter Aufsicht einer unabhängigen Wahlkommission und insgesamt recht unanarchistisch – kurzerhand einen neuen Vorstand, dem nun drei deutsche und vier russische Gemeindemitglieder angehören.

Der will nun, meint der neue Vorstand Karl Sommer, seine Tätigkeit ehrenamtlich ausführen, sich um die Integration der Zuwanderer kümmern und die Wiederaufnahme in den Landesverband der Jüdischen Gemeinden Sachsen-Anhalt beantragen, aus dem die Gemeinde Halle 1990 ausgetreten war. Ändern wird das vorerst noch nichts. Gunther Helbig beharrt auf seinem Posten, auf dem Schlüssel zu den Gemeinderäumen und den Mitgliederlisten. Da die Jüdischen Gemeinden autonom sind, kann sich der „Zentralrat der Juden in Deutschland“ erst einschalten, wenn beide Parteien ein unabhängiges Schiedsgericht anrufen würden. Das aber kann dauern. Beide Seiten haben die Angelegenheit nun ihren jeweiligen Anwälten übergeben.