Polizei wegen Kidnappings am Pranger

■ Bei den Chaostagen in Hannover im August setzte die Polizei mindestens 500 Punks illegal fest. Die Staatsanwaltschaft spricht von Freiheitsberaubung, da die Jugendlichen ohne Gerichtsbeschluß eingesperrt wurden

Hannover (taz) – Jetzt ist es amtlich: Bei den Chaostagen in Hannover hat die Polizei mehrere hundert Punks rechtswidrig festgehalten. Dies bestätigte das Hannoversche Amtsgericht nun in Briefen an die widerrechtlich Festgehaltenen. In den vergangenen Wochen hatte es die Fälle von rund 700 jungen Leuten überprüft. Als polizeilichen Rechtsbruch werten die im wesentlichen gleichlautenden Beschlüsse des Gerichts dabei die Tatsache, daß die Jugendlichen ohne richterliche Entscheidung in Gewahrsam gehalten wurden. Gemäß Artikel 104 des Grundgesetzes verlangt auch das niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz, daß die Polizei bei Ingewahrsamnahmen „unverzüglich eine richterliche Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung herbeizuführen“ hat.

Obwohl an den Chaostagen ständig Haftrichter in Bereitschaft waren, legt das Amtsgericht bei seinen Entscheidungen den Begriff „unverzüglich“ noch weit aus. So sieht in einem der taz vorliegenden Beschluß der Haftrichter die ersten „18–19 Stunden“ des Polizeigewahrsams noch als rechtmäßig an. Er erklärt jedoch den zweiten Tag der Ingewahrsamnahme ohne die „unverzügliche“ richterliche Entscheidung für rechtswidrig.

Bei 700 jungen Leuten, die die Polizei über das Chaoswochenende vom 4. bis 6. August „zum Zwecke der Gefahrenabwehr“ unter anderem in ehemalige Kasernen sperrte, hat das Amtsgericht die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Polizei in den letzten Wochen überprüft. „In etwa zwei Dritteln der Fälle war die freiheitsentziehende Maßnahme mindestens teilweise rechtswidrig“, faßte gestern die Sprecherin des Amtgerichtes das bisherige Ergebnis dieser Prüfungen zusammen. Die Beschlüsse des Amtsgerichts haben für die verantwortlichen Polizeibeamten jetzt möglicherweise sogar strafrechtliche Konsequenzen. „Wenn richterlich die Rechtswidrigkeit einer Ingewahrsamnahme festgestellt ist, erfüllt dies objektiv den Tatbestand der Freiheitsberaubung“, erklärte gestern der Sprecher der Hannoverschen Staatsanwaltschaft, Nikolaus Borschers. Der Oberstaatsanwalt geht davon aus, daß das Amtsgericht die Vorgänge nun der Staatsanwaltschaft zur Prüfung zuleitet. Strafrechtlich relevant sei ein solcher rechtswidriger Freiheitsentzug allerdings nur, wenn die verantwortlichen Beamten vorsätzlich rechtswidrig gehandelt hätten.

Nach allem, was bisher über die Massenverhaftungen an den Chaostagen bekanntgeworden ist, hat die Polizei allerdings sehr wohl bewußt richterliche Entscheidungen über die Festsetzung von Punks verhindert. So hatte das Innenministerium mitgeteilt, ein Haftrichter habe während der Chaostage nur zehn Ingewahrsamnahmen überprüft und in allen zehn Fällen die Freilassung der betroffenen Jugendlichen angeordnet. Daraufhin habe die Polizei bei den übrigen nahezu tausend Festgenommenen auf eine richterliche Prüfung des Freiheitsentzuges verzichtet. Der Polizei sei es in der Hektik der Ereignisse nicht möglich gewesen, auf den eigens vorbereiteten Formularen die Gründe für die Ingewahrsamnahme einzutragen, erklärte der Sprecher des Innenministeriums damals. Zahlreiche Jugendliche hatten von vornherein behauptet, die Polizei habe wahl- und grundlos alle auf der Straße greifbaren Punks einkassiert. Jürgen Voges