■ Revisionsurteil gegen die kurdischen Abgeordneten
: Ein Sieg des antieuropäischen Kalküls

Die politische Willkür, die sich im Verfahren gegen acht kurdische Abgeordnete aus dem türkischen Parlament mit dem Urteil vom Dezember letzten Jahres zeigte, hat sich nun in der Revisionsinstanz fortgesetzt. Auch nach türkischen Maßstäben ist das Urteil ein Justizskandal. Da in der ersten Instanz praktisch keine Beweisaufnahme stattfand, hätte das Urteil umstandslos aufgehoben werden müssen.

Vier Abgeordnete werden nun noch weitere zehn Jahre im Knast zubringen müssen, wenn nicht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (in vielen Jahren) das Urteil aufhebt. Dabei macht die andauernde Haft der kurdischen Politiker schon jetzt keinen Sinn mehr. Ihre Partei ist verboten, ihre Mandate haben sie verloren, und selbst wenn einige von ihnen bei den für den 24. Dezember angesetzten Wahlen wieder hätten kandidieren wollen, sind ihre Chancen heute schlechter als 1991.

Da es keine juristische Rechtfertigung für das Urteil geben kann, wiegt das politische Kalkül hinter dieser Entscheidung um so schwerer. Den klaren Forderungen der EU und der OSZE nach „sofortiger Freilassung aller Abgeordneten“ ist eine ebenso klare Abfuhr erteilt worden. Anstatt einen Stein für den Beitritt zur Europäischen Zollunion, die im Dezember dieses Jahres auf der Tagesordnung steht, aus dem Weg zu räumen, haben die antieuropäischen Kräfte im Lande einen weiteren Teilerfolg erzielt. Und das obwohl durch eine Wiederaufnahme der alten Koalition Hoffnungen aufkamen, durch eine Revision des Gesinnungsparagraphen 8 aus dem „Anti-Terror-Gesetz“ das Tor zu Europa offenzuhalten.

Jedoch offenbart sich auch an diesem Punkt die Halbherzigkeit der Machthaber in der Türkei. Laut Koalitionsvereinbarung soll der Paragraph fast wörtlich erhalten bleiben und lediglich das Strafmaß gesenkt werden (bei erhöhter Geldstrafe). Einige der momentan zirka 170 „Meinungstäter“ kämen frei, aber neue würden folgen. Außerdem würden weder die vier Abgeordneten, deren Urteile gestern bestätigt wurden, noch Ibrahim Aksoy (Ex-Abgeordneter und Angehöriger des gemischten Ausschusses Türkei/EU) freikommen. Das kann Europas Politikern und auch erklärten Türkei-Freunden wie dem deutschen Außenminister doch wohl nicht recht sein.

Helmut Oberdiek

Der Autor ist Türkei-Experte und lebt in Hamburg.