■ Die Milliardenlöcher, Waigels Zettelwirtschaft und die SPD: „Wer hinausgeht ...“
Manchmal ist Bundesfinanzminister Theo Waigel von erfrischender Frechheit. Er zieht die buschigen Augenbrauen hoch und läßt an die VolksvertreterInnen ein einseitiges Papierchen verteilen. Sein Inhalt: Dem Minister fehlen 19,5 Milliarden Mark für seinen Haushalt 1996. Um das Loch zu stopfen, schlägt Waigel vor, einen Teil des staatlichen Tafelsilbers schneller zu verscherbeln, die Arbeitslosen weiter zu schröpfen und einen milliardenschweren Vorschuß auf 1997 zu nehmen.
Die Opposition war baff. Bundestagabgeordnete sind es durchaus gewohnt, sich mit Verve über Millionen zu streiten. In zwei Monaten hatten sie 700 Millionen Mark aus dem Haushalt herausgespart. Sie haben es mit einer Regierung zu tun, deren Forschungsminister kürzlich ein 5.000-Mark-Zuschuß der hessischen Landesregierung Anlaß genug für böse Briefe war. Und nun faßt Waigel ein 20-Milliarden-Loch und seine Finanzierung auf einer Din-A4-Seite zusammen.
Prinzipiell kann man hinter dem Waigelschen Vorgehen zweierlei vermuten. Entweder der Minister hat angesichts von Treuhand-Schuldenmilliarden völlig den Überblick und den Sinn für Proportionen verloren. Angesichts solcher Geistesschwäche wäre er dringend abzulösen.
Oder das jetzt zugegebene Loch war seit Monaten eingeplant bzw. billigend in Kauf genommen. Die neuen Steuergeschenke für Investoren im Osten, die bei weitem das größte Loch in Waigels Kasse reißen, wären in dieser Interpretation vorauszusehen gewesen. Die jetzige Einspar- und Veräußerungsorgie wäre ein krasser Akt der Umverteilung unter dem Deckmantel falscher Prognosen und richtiger Schusseligkeit.
Einiges spricht für die zweite Theorie. Seit Monaten wollen die Gerüchte nicht verstummen, daß Waigel in seinen Haushaltsplänen mit zu optimistischen Annahmen operiert. Trotzdem hat es keine konzertierten Pläne der Regierung gegeben, für solche Eventualitäten vorzubeugen. Der Sachzwang zum Kürzen und Verscherbeln wurde herbeigeführt.
So richtig es war, den Waigelschen Finanztorso am Mittwoch in einer aktuellen Stunde im Bundestag vorzuführen, so wichtig ist jetzt eine genaue Analyse über das Entstehen der Löcher. Die Ursachen der Finanzkrise müssen beseitigt werden, nicht die Symptome. Dabei allerdings hilft der Opposition der Auszug aus den Sitzungen des Bundestages überhaupt nicht. Herbert Wehner hat dazu vor Jahrzehnten das Notwendige gesagt: „Wer rausgeht, muß auch wieder reinkommen.“ Hermann-Josef Tenhagen
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