: Die Missionare für Quebec
Am Montag stimmen die Bürger der frankophonen Provinz Quebec über ihre Unabhängigkeit ab. Zum Entsetzen Kanadas könnten die Separatisten gewinnen ■ Aus Montreal Andrea Böhm
Im „Cinema Paradis“, einem tristen Betonwürfel zwischen Tankstellen und Videotheken in der Rue Hochelaga, regieren Walt Disney und Sylvester Stallone. Mittwoch ist Kinotag. Wer etwas fürs Gemüt haben möchte, sieht sich „Pocahontas“ an. Für die actionsüchtige Jugend wird Stallones „Judge Dredd“ gezeigt – in französischer Synchronisation. Auch das Junk food schmeckt wie in den USA. Nur nennt sich die „Kentucky Fried Chicken“-Kette hier „Poulet Frit Kentucky“. Nicht auf den Geschmack der Kunden kommt es an, sondern auf deren erbittert verteidigte Identität als Frankophone.
Gilles Goyette hat schon seit Wochen keine Zeit mehr fürs Kino. Bei „Métro Richelieu“, einem Großhandel, wo er sonst im Schichtdienst Gemüse- und Obstlieferungen für Supermärkte verteilt, hat er seinen Jahresurlaub genommen. Nun sitzt er, unbezahlt, in einem kahlen Gewerberaum, ein paar Blocks vom Kino entfernt, und arbeitet an seinem Traum: einem unabhängigen Quebec. Auf einem Tapeziertisch stapeln sich Papierberge und Karten der umliegenden Häuserblocks. Gilles Goyette, Vorsitzender der „Kampagne für das Ja“ im Montrealer Stadtteil Pointes aux Tremble, will, daß am Montag alle Befürworter der Sezession Quebecs aus seinem Bezirk auch wirklich ihr Kreuz hinter dem magischen „Oui“ machen. 25.000 Einwohner aus Pointes aux Tremble haben sich in Telefonumfragen von Goyette und seinen Helfern als Anhänger der Unabhängigkeit zu erkennen gegeben. Sie alle werden am Montag noch einmal einen Anruf aus der Rue Hochelaga erhalten, „damit wir sicherstellen, daß sie auch wirklich gewählt haben“. Gilles Goyette war 17 Jahre alt, als 1980 das erste Referendum für ein unabhängiges Quebec scheiterte. Diesen Schock und das Gefühl der Erniedrigung will er nicht noch mal erleben.
Dafür könnte er einen Schock mit auslösen, der weit über Kanada hinaus zu spüren wäre. Noch bis vor wenigen Wochen schien das Referendum, initiiert von Jacques Parizeau, den Premierminister Quebecs und überzeugten Separatisten, ohne Chance. Parizeau, ein Ökonomieprofessor mit viel Talent für verwirrende Zahlenangaben und wenig Charisma, hatte in seiner Kampagne „Pour le Oui“ selbst überzeugte Separatisten und Anhänger der „Parti Québecois“ eher abgeschreckt. Die Gegenseite, angeführt von der föderalistischen „Liberal Party“ mußte sich ebensowenig Sorgen machen wie die Bundesregierung in Ottawa. Es schien vollauf zu genügen, den Quebecern in düsteren Farben auszumalen, was sie sich mit der Unabhängigkeit einhandeln würden: Kapitalflucht, Verlust Tausender Arbeitsplätze, Währungskrise und einen Ausschluß aus dem Freihandelsabkommen Nafta.
Doch seit dem 9. Oktober ist alles anders: Lucien Bouchard, Führer des „Bloc Québecois“, der im Bundesparlament in Ottawa als zweitstärkste Fraktion den Status der „offiziellen Opposition“ innehat, übernahm das Ruder im Kampf um die Unabhängigkeit. Zuvor hatte er dem extremistischen Parizeau den Kompromiß abgenötigt, daß Quebec nach der Unabhängigkeit eine politische und ökonomische Assoziation mit Kanada nach dem Vorbild der EU eingehen wolle, womit viele „weiche Nationalisten“ auf die Seite der „Ja-Kampagne“ gezogen wurden. Nun ist er auch zum Sprecher der Kampagne geworden – und nichts erweckte die frustrierten Anhänger eines unabhängigen Quebecs schneller zum Leben, als Bouchards rhetorische und demagogische Fähigkeiten. Dem „englischen Kanada“, so verspricht Bouchard, werde nach einem Sieg der Separatisten gar nichts anderes übrigbleiben, als sich in Verhandlungen schnellstens über eine politische und ökonomische Partnerschaft zu einigen, womit Quebecs wirtschaftliche Probleme umgehend gelöst wären. Hält man sich an die Umfragen, so glauben dies immer mehr Quebecer. 45 Prozent wollen am Montag für die Unabhängigkeit stimmen, 42 Prozent dagegen, immerhin 13 Prozent haben sich noch nicht entschieden.
Auch für Gilles Goyette ist die Sache einfach, wenn sich ein Viertel der Bevölkerung plötzlich aus dem Bundesstaat verabschiedet: „Wir übernehmen 25 Prozent des kanadischen Defizits, wir kriegen 25 Prozent des Materialbestandes der kanadischen Armee. Wir können endlich unsere eigene Einwanderungspolitik machen und das Überleben unserer Sprache sichern – und was Nafta angeht, so verhandeln wir unseren Eintritt bilateral mit Kanada, Mexiko und den USA.“ So denken die meisten seiner Nachbarn in Pointes aux Tremble, wo die Arbeitslosenrate bei 14 Prozent liegt: So denken die Lehrlinge, die an diesem Donnerstag bei sonnigem Herbstwetter vor der „Ecole Mécanique Automobile“ in Montreal ihre Mittagspause mit einem Football-Spiel verbringen; so denken konservative Farmer ebenso wie liberale Intellektuelle.
Sie alle lauschen verzückt, wenn Lucien Bouchard in seinen Auftritten die neue, wunderbare Ära eines souveränen Staates Quebec ankündigt und sich über die Verzweiflung der Föderalisten unter Premierminister Jean Chretien in Ottawa mokiert. Bouchard ist raffiniert genug, dem politisch pittoresken Spektrum seiner Anhänger ausgewählte Zuckerstückchen zu verabreichen. Die nationalistisch- xenophobe Fraktion hofierte er letzte Woche mit der Klage, daß die frankophonen Kanadier eine „der weißen Rassen mit der niedrigsten Geburtenrate“ sei. Sie sollten mehr Kinder in die Welt setzen, um die Zuwanderung nicht- weißer Immigranten auszugleichen. Einer Versammlung von „Ärzten für das Ja“, die sich im Aids-Bereich und bei internationalen Hilfsaktionen engagieren, schilderte er in wärmsten Farben ein souveränes Quebec, in dem Gleichheit, Toleranz und Gerechtigkeit herrschen würden. Der alten Generation der Separatisten präsentiert er sich als die Personifikation des gekränkten Frankophonen, dem seit der britischen Eroberung 1759 jedes Menschen-und Bürgerrecht verweigert worden ist. Mit den Jungen, denen die Souveräntität Quebecs ein Anliegen geworden ist, wie vielen gleichaltrigen Deutschen einst die Friedensbewegung, kommuniziert er mühelos in Talk-Shows von „Musique Plus“, der Quebecschen Entsprechung zu MTV. Und dann umgibt ihn auch noch die Aura des Missionars, den auch Schicksalsschläge nicht aufhalten können: Vor einem Jahr wäre Bouchard fast an einer Infektion durch sogenannte fleischfressenden Bakterien gestorben. Sein linkes Bein wurde amputiert. Das Gehen mit Prothese und Stock fällt ihm sichtbar schwer, doch seinem Elan tut es keinen Abbruch – im Gegenteil. Seine Anhänger behandeln ihn seitdem mit fast religiöser Ehrfurcht, seine Gegner resignieren in Montreals anglophonen Kneipen bei Bier und geschmacklosen Bemerkungen über Einbeinige.
Dem hatte der Premierminister, selbst Quebecer, diese Woche nur noch einen Verzweiflungsakt entgegenzusetzen: Kraft Amtes und des kanadischen Fernsehgesetzes, das ihm in „nationalen Notfällen“ Sendezeit zugesteht, wandte sich Jean Chretien am Mittwoch auf englisch und französisch an das noch vereinte Fernsehpublikum: „Das Ende Kanadas wäre nichts weniger als das Ende eines Traumes, auf den die ganze Welt neidvoll blickt. Kanada ist nicht nur irgendein Land. Es ist das Beste in der Welt.“
Immerhin: In den letzten Tagen haben die leidgeplagten Föderalisten mit ihrer Kampagne „Pour le No“ aus höchst unterschiedlichen Richtungen Verstärkung erhalten. In Washington erklärte US-Präsident Bill Clinton, er wünsche sich ein „starkes“ – soll heißen: vereintes – Kanada. Sein Pressesprecher Mike McCurry fügte hinzu, von einer „automatischen Aufnahme“ eines unabhängigen Quebec in das Nafta-Abkommen könne keine Rede sein.
In Montreal, in einem kleinen Mietshaus in der Rue St. Catherine, verkündete einer der einstmals militanten Separatisten, daß er mit der Unabhängigkeitsbewegung nichts mehr zu tun habe. Pierre Vallieres hatte vor über 25 Jahren mit der Veröffentlichung seines Buches „Die weißen Nigger Amerikas“ Schlagzeilen gemacht, in dem er die frankophonen Arbeiter Quebecs mit den Schwarzen in den USA und die Unabhängigkeitsbewegung mit dem Kampf der „Black Panther“ verglich. Damit lieferte er das theoretische Manifest für die „Front de libération du Quebec“ (FLQ), die in den sechziger Jahren durch eine Serie von Bombenanschlägen, Kidnappings und Morden Sezession und Sozialismus herbeischießen wollten. Das führte vor genau 25 Jahren zur „Oktoberkrise“, in der Bundestruppen nach Quebec entsandt und der Ausnahmezustand ausgerufen wurde. Vallieres mußte für vier Jahre ins Gefängnis, engagierte sich später in der kanadischen Schwulenbewegung – und verzeichnet heute wieder verstärktes Interesse an seinem Buch. „Aber die Separatisten von heute sind nur an Polarisierung interessiert, nicht mehr an sozialem Wandel“, sagt er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Politiker wie Bouchard benutzten den Nationalismus als „Grabbeltisch“, an dem sich all jene bedienen könnten, die durch politischen und ökonomischen Wandel ausgegrenzt würden. Für sein einst geliebtes Quebec sieht er schwierige Zeiten kommen – ebenso für sein ungeliebtes Kanada. „Egal, wie das Referendum ausgeht, es wird einen tiefen Riß zwischen Föderalisten und Separatisten in der Gesellschaft Quebecs hinterlassen. Was Kanada betrifft, so hat dessen Auflösung bereits begonnen. Der Separatismus in Quebec ist nicht mehr wegzudenken – und die westlichen Provinzen werden sich in Richtung pazifisches Becken orientieren.“
Dieses Mal dürfte er mit seiner Analyse und seinen Prophezeiungen richtiger liegen als vor 25 Jahren. Doch allzusehr bekümmern ihn die tristen Aussichten für sein Land nicht mehr. Die letzten Monate hat er in Sarajevo verbracht, dessen Kampf um eine multiethnische Zukunft in einem souveränen Bosnien er durch den Import von Zeitungs- und Buchpapier unterstützen will. Nicht einmal an einem Paß des souveränen Staates Quebec wäre er interessiert. Er hat die bosnische Staatsbürgerschaft beantragt.
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