Blick vom Krankenbett auf den Rivalen

Rußlands Präsident Jelzin soll bis Ende November in stationärer Behandlung bleiben. Seine Mitarbeiter erklären ihn für arbeitsfähig. Premier Tschernomyrdin wartet ab  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Mit sorgenvollem Gesicht gab Präsident Jelzins engster Mitarbeiter, Viktor Iljuschin, noch am Donnerstag bekannt, der Präsident sei erneut wegen akuter Herzschwäche ins Krankenhaus eingeliefert worden. Anders als bei Jelzins Erkrankung im Juli reagierte das Präsidialbüro diesmal prompt, um weiterreichenden Spekulationen keinen Vorschub zu leisten.

Zunächst war von einer Woche Krankenhausaufenthalt die Rede. Aufgrund instabiler Herzmuskelfunktionen, die gestern andauerten, soll Jelzin nun aber den ganzen November in stationärer Behandlung bleiben. Einschließlich der Rekonvaleszenzzeit wird der Präsident voraussichtlich bis Jahresende seine Amtsgeschäfte nicht mehr aufnehmen können.

Die für nächste Woche geplante China-Reise wurde sofort verlegt; das Treffen der Präsidenten der Konfliktparteien auf dem Balkan wird abgesagt, meldete der Kreml.

Die Herzschwäche sei mit der übermäßigen Belastung des Präsidenten während seiner Besuche in Paris und in New York bei den Vereinten Nationen in Verbindung zu bringen, mutmaßten seine Berater. Außerdem habe sich der Präsident nach der letzten Erkrankung nicht genügend Zeit zur Erholung zugestanden. Ein russischer Kardiologe kommentierte Jelzins Rückfall hoffnungsvoll: „Wäre es mein Patient, würde ich ihm sagen, zwei Anfälle in vier Monaten sind nicht schlecht. Ich würde eine optimistische Prognose abgeben – das heißt, wenn keine anderen Anfälle verheimlicht worden sind.“

Nach wie vor begegnet man in Rußland Verlautbarungen von Leibärzten und engen Vertrauten der politischen Führung mit gehörigem Mißtrauen. Dies ist eine Hypothek aus Zeiten der sowjetischen Gerontokratie. Die Aufmerksamkeit, die dem Gesundheitszustand des führenden Kopfes gewidmet wird, hängt mit den schwach ausgebildeten demokratischen Strukturen Rußlands zusammen.

Noch immer herrschen Befürchtungen vor, Rivalen könnten die Schwäche des Präsidenten zum Machtwechsel nutzen. Daher beeilen sich Jelzins Mitarbeiter und Premierminister Viktor Tschernomyrdin bei derartigen Anlässen, die Ernsthaftigkeit der Erkrankung nach dem Muster zu relativieren: krank, aber durchaus in der Lage, die Amtsgeschäfte zu überschauen. Wäre Jelzin gänzlich arbeitsunfähig, würde Premier Tschernomyrdin nach der Verfassung für drei Monate die Kompetenzen des Präsidenten wahrnehmen.

Auch diesmal wies Tschernomyrdin nach einem Besuch im Krankenhaus die Notwendigkeit einer solchen Maßnahme entschieden zurück. Jelzins Ausfall kommt denkbar ungelegen. Seinen machtbesessenen Souffleuren im Kreml paßt es überhaupt nicht in den Plan. Denn sie wollen ihren Herrn noch ein zweites Mal um die Präsidentschaft ins Rennen schicken. Jelzins konfrontatives Auftreten in den letzten Wochen gegnüber dem Westen in der Bosnien-Frage und seine harsche Kritik an Außenminister Kosyrew zielten darauf ab, dem Land einen Präsidenten vorzuführen, der nicht nur wieder bei besten Kräften, sondern auch entschlossener als jeder Rivale sei, Rußlands Interessen mit allem Nachdruck zu vertreten.

Nach dem Gipfel mit Bill Clinton standen Jelzins Karten nicht schlecht. Das Zugeständnis, die Präsidenten Bosniens, Kroatiens und Serbiens zur Schlichtung nach Moskau zu rufen, wurde bereits als triumphaler Erfolg gefeiert. Auch ohne Jelzin solle der Gipfel nun stattfinden, meldete der Kreml zunächst. Das wurde alsbald korrigiert. Das Treffen ist abgesagt.

Unterdessen steigt die Populärität von Premier Tschernomyrdin. Mehrfach wurde er darauf angesprochen, ob er nicht zu den Präsidentschaftswahlen 1996 antreten wolle. Selbst Boris Jelzin sah sich öffentlich genötigt, volle Übereinkunft mit dem Premier in entscheidenden Fragen zu unterstellen und dadurch dessen Ambitionen auf das Präsidentenamt zu dementieren. Es klang jedoch wie eine Order.