Helm auf und Zapfen streichen

Beim „Großen Zapfenstreich“ regierte in Bonn der polizeiliche Ausnahmezustand. Die Protestler wurden eingekessselt  ■ Aus Bonn Udo Bünnagel und Bernd Neubacher

Erst nach fünf Minuten gelangt der Kanzler zum Wesentlichen: „Die Verantwortung für das neue Deutschland ist gewachsen.“ Das verkündet er vor rund 1.800 Ehrengästen in der Bonner Beethovenhalle. „Wir brauchen Streitkräfte, die der Völkergemeinschaft zur Verfügung stehen, weil auch wir fünf Jahrzehnte Hilfe erhalten haben“, sagt der Mann, der noch zwei Tage zuvor keine Zeit gefunden hatte für die Feier zum 50jährigen Jubiläum der Vereinten Nationen. Und ergänzt: „Kameradschaft ist keine Einbahnstraße.“

Die Anwesenden quittieren die klaren Worte mit Beifall. Kohl beschwört die „freiheitlichen Werte der deutschen Militärgeschichte“. Der Widerstand gegen die NS- Diktatur sei das ethische Fundament, auf dem die Bundeswehr aufbaue. Über die Wehrmachtskarriere vieler hoher Militärs verliert der Kanzler kein Wort. Er erinnert an die Frauen und Mütter der Truppe. Die einen verdienen Anerkennung, weil sie das Vagabundenleben ihrer Männer teilen, die anderen, weil sie freitags ihre Söhne und deren schmutzige Wäsche in Empfang nehmen. Erneuter Applaus unter den Generälen, Politikern und kirchlichen Würdenträgern, die bei Schnittchen und Pils dem Kanzler lauschen.

Den Presseleuten hat der Informationsstab des Verteidigungsministeriums einen strikten Terminplan verpaßt: Punkt 19.15 Uhr eskortieren Sicherheitsbeamte die Journalisten mit den Ehrengästen von der Beethovenhalle zur Hofgartenwiese. Durch die getönten Scheiben der Fahrzeuge präsentiert sich ihnen Bonn im Ausnahmezustand: Rund 4.000 Uniformierte kontrollieren die Stadt, Absperrungen überall, Polizeiwagen, die fast das gesamte Rheinufer säumen. An der Hofgartenwiese begrüßen rund 1.000 Demonstranten die Gäste mit einem Pfeifkonzert.

Die Zeremonie dort, welche die Stadt den ganzen Tag lahmlegt, dauert bloß eine halbe Stunde. Im Schutze einer Wagenburg aus Polizeibussen marschieren 500 Soldaten vorbei an Bundeskanzler Kohl, Bundespräsident Herzog, Verteidigungsminister Rühe und Generalinspekteur Naumann. Was sie und die Medienleute auf der Tribüne erleben, hat nichts mit dem zu tun, was das gemeine Volk zu sehen bekommt. Vielen bleibt der Blick auf das militärische Imponiergehabe versperrt. Zu weitläufig ist die Absperrung, zu hoch die Kameraaufbauten vieler Sender. Mancher wird nachher erst im Fernsehen das sehen können, weswegen er gekommen ist.

„Das sieht hier aus wie im Polizeistaat“, hatte Mani Stenner, Organisator der Gegenkundgebung auf dem Kaiserplatz, eine Stunde vor dem Zapfenstreich den Demonstranten gesagt. „Aber anders als im Polizeistaat wissen wir, was uns heute von der Polizei erwartet.“ Doch am Tag darauf wird er Strafanzeigen wegen Freiheitsberaubung gegen die Ordnungshüter ankündigen und von einer „unrechtmäßigen Einkesselung“, einem „absoluten Skandal“ sprechen. Denn entgegen ihrer vorherigen Zusage verfolgen die Ordnungshüter eine einfache Taktik, um die Gegner der Feier fernzuhalten. Sie öffnen erst gar nicht den Zugang zur Durchsuchungs- und Abfummelschleuse, den Stenner auf Anraten der Polizei den Demonstranten empfohlen hat.

Während auf der Hofgartenwiese pünktlich um 20.30 Uhr Feststimmung befohlen wird, ist dort ein Durchkommen weder möglich für NormalbürgerInnen noch für Abgeordnete, die mit ihren Bundestagsausweisen winken. Selbst nicht für uniformierte Angehörige der Bundeswehr.

Mehrere Einsatzhundertschaften bauen sich zunächst mit Helmen, dann mit Schildern an der Absperrung auf. „Achtung, dies ist eine freundliche Anfrage“, wendet sich nach einer guten Stunde des Ausharrens ein Mittvierziger an einen Beamten. „Kommen wir heute noch einmal herein?“ Der Beamte nickt. Ein zweiter antwortet auf dieselbe Frage: „Ich weiß genausoviel wie Sie.“ Schon kesseln die Sicherheitskräfte die Straßenkreuzung ein. Währenddessen neigt sich der Zapfenstreich bereits seinem Ende zu.

Auf der Ehrentribüne sind zwar vereinzelt Pfiffe und „Mörder, Mörder“-Rufe der Eingekesselten zu vernehmen. Den Protest übertönt immer wieder die Bundeswehrkapelle mit einem Repertoire vom Fliegermarsch bis hin zu Rod Stewarts „I am sailing“. Zum Finale erklingt die Nationalhymne. Ein Militär spricht ins Mikrophon: „Melde den Großen Zapfenstreich zu Ehren 40 Jahre Bundeswehr, fünf Jahre Armee der Einheit, ab.“

Im Kessel nähert sich die Stimmung in der darauffolgenden Stunde indes dem Siedepunkt: Dort müssen die Leute noch ausharren, als sich der Hofgarten bereits bis auf einige hundert Polizisten geleert hat.