■ Normalzeit
: Je doller, dosto jewski!

Nina Gebhardt und Karine Wisbar fingen vor 20 Jahren im Internationalen Buch in der Spandauer Straße als Spezialistinnen für sowjetische Literatur an. Als die Buchhandelsgesellschaft 1985 einen Laden „Raduga“ im Haus der sowjetischen Kultur eröffnete, zogen die beiden mit um. Nach der Wende übernahm zunächst die ExLitteris GmbH das Geschäft. 1994 pachtete es Frau Gebhardt zu einem günstigen Zins vom nunmehr russisch gewendeten Kulturhaus. Seitdem ist diese Einrichtung die am besten funktionierende dort: mit allen Neuerscheinungen, regelmäßigen Lesungen, Videos russischer Filme, Musik-Kassetten und den neuesten Zeitungen. Der literarisch- künstlerische Almanach Ostrow (Insel) wird sogar vom „Raduga“ (Regenbogen) mit herausgegeben. Chefredakteur ist Slava Syssojew, sein Büro ist in der Dimitroffstraße 4.

Berühmt wurde der vier Jahre im Moskauer Untergrund lebende Karikaturist mit der Zeichnung eines klapprigen alten Panje-Pferdes, das einen Karren mit SS-20-Raketen zog: Sie brachte ihm 1983 eine zweijährige Haft wegen Pornographie ein. 1991 emigrierte er mit seiner Frau Larissa in die BRD. Ihre Zeitschrift Ostrow sammelt nun einen Teil der versprengten russischen Intelligenz.

Dann gibt es da noch die russische Zeitung Europa-Center aus dem Verlag „edition q“, in der primär Businessmen annoncieren – vom Friseur Vladi in der Martin-Luther-Straße über die Pension Kima in der Wielandstraße und die russische Buchhandlung in der Kantstraße bis zum Reisebüro Sawin am Adenauerplatz. „Raduga“ ist im zweiten Stock des Kulturhauses Friedrichstraße untergebracht und wird dort leicht übersehen. „Warum macht ihr keine Werbung im Europa- Center?“ „Das wollen wir nicht“, sagt Nina Gebhardt, „ich habe ein Adressenverzeichnis meiner Stammkunden und darüber laufen unsere Einladungen.“

Ich verstand. Ähnlich hatte zuvor auch schon die Besitzerin des russischen Restaurants „Voland“ argumentiert: Das muß langsam und quasi organisch-netzwerkartig mit und aus dem Freundeskreis heraus wachsen. Dieses gefühlsmäßige Sich-auf-die-Seite- des-Gebrauchswerts-Schlagen – aus Erfahrungen mit dem zur Lieblosigkeit tendierenden staatlichen Versorgungsauftrag – erinnert stark an „alternative Lebens- und Arbeits-Projekte“. Interessant ist daran das sich ausdehnende (Hand-)Gemenge in Trotzdem-Verbindungen. Im „Raduga“ z. B. eine Reihe russischdeutscher Zeitungen: In der Neues Leben aus Ludwigshafen findet man Interviews mit dem Rußlanddeutschen-Lobbyisten, Staatssekretär Waffenschmidt: „Inseln der Hoffnung“, aber auch mit Ingrid Matthäus-Maier – man verlangt von uns, sich zum Deutschtum zu bekennen, aber andererseits wird das als Deutschtümelei abgetan: „Ich glaube, Sie befragen das Problem ganz richtig!“

Bemerkenswerterweise besteht der Lebenshilfe-Hauptartikel der Ausgabe 8/95 aus detailliertester Darstellung des deutschen „System-Lottos“! In Rußland und Wir aus Oberursel wird das Glück dagegen eher in sowjetisch-russischer Herzenstiefe – mit Gedichten, politischen Analysen, Essays und Kurzkritiken (darf man sagen: wehmütig?) – kultiviert. Natürlich gibt es im „Raduga“ auch den legendären Sputnik – aber da ist einstweilen noch mit Gorbatschow die Luft raus. Seit dessen von Jelzin mit einem Pseudo-Putsch beschleunigten Abschied wird immer weniger russische Literatur ins Deutsche übersetzt. Zu unserem Glück breiten sich dafür hier die russischen Verbindungen gerade aus, mit solch schönen kleinen Handelszentren wie das „Raduga“, wo man einen Kaffee zum Gespräch angeboten bekommt. Helmut Höge

wird fortgesetzt