Baustellen- und Ruinenpflege

Zeit und Raum in ungewisses Wendegrau gehüllt: Klaus Pohl inszeniert am Berliner Deutschen Theater ein Konzentrat seiner „Spiegel“-Reportagen über das Befinden der Deutschen  ■ Von Sabine Seifert

Wiederverwertung? Ja, aber andersherum. Klaus Pohl ist immer noch in erster Linie Dramatiker und nicht Reporter. Seit 1992 lebt er in New York, wo er manchmal ins Theater geht („da sieht man auch viel Schrott“) und eines Tages sehr beeindruckt war von der Arbeit einer Autorin, die nach den Aufständen in Los Angeles mit etwa fünfzig Landsleuten Interviews zum Thema Rassentrennung geführt und daraus ein Stück montiert hatte.

„Das hat mich dazu inspiriert, nach einem ähnlichen Verfahren es hier mit Deutschland zu versuchen“, erzählt Pohl. Der Spiegel funkte dazwischen, Pohl fuhr im Mai 1994 drei Wochen durch Deutschland, interviewte etwa 58 Menschen. „Ich habe dann diese drei Teile für den Spiegel geschrieben und über den letzten Winter diese ganzen Gespräche abgetippt, ediert, zusammengestrichen und daraus das Stück gefiltert.“ Sein Titel: „Wartesaal Deutschland Stimmenreich“.

Nach der Probe kommt der 43jährige – der sich wohl vor kurzem hat kahl scheren lassen, denn nun sprießen die ersten dunklen Haare wieder und lassen ein paar Stellen aus – in die Theaterkantine herunter. Er ist lässig, freundlich; weiß, was er sagt, und sagt kein Wort zuviel. Täglich zwei Interviews in der letzten Probenwoche. Man sollte allen Dramatikern raten, ihre Recherchen als Reportagen vorzuarbeiten: Sie werden erstens (gut) bezahlt und sorgen zweitens hinterher garantiert für gesteigertes Interesse der Medien im Falle einer Dramatisierung.

Pohl, ursprünglich Schauspieler, dann auch Regisseur, inszeniert seinen deutschen Themenabend selbst: am Deutschen Theater im ehemaligen Ost-Berlin nahe der Friedrichstraße, das heutzutage von Baustellen umringt ist und vermutlich über staubedingten Zuschauerschwund in ernstzunehmender Größenordnung zu klagen hat. Er hat von den 58 Interviews etwa 20 ausgewählt, diese immer weiter verknappt und pointiert. Lebensläufe und Karrieren, entweder durch die DDR oder durch die Wende beschädigt, abgeknickt. Menschen, für die sich persönlich nicht viel geändert hat. Ein ostdeutscher Werder-Fan bringt es auf einen Nenner: „Im Grunde hat sich nischt verändert. Bloß das gesellschaftliche System.“

Aber Pohl hat nicht nur Ostdeutsche befragt, sondern auch Westdeutsche – solche, die sich um den Osten bemühen. Den Bürgermeister von Bebra, wo jetzt noch weniger los ist als einst im Zonenrandgebiet, oder den Versicherungsvertreter, der seinen Untergebenen Körperpflegekultur beizubringen meint. Die Bühne (Stephan Fernau) besteht aus nichts als einer Bahnhofshalle. Ein Zuganzeiger (Berliner S-Bahn-Design) kündigt an, wer spricht. Pohl erzählt beim Kantinengespräch, daß er überlegt hätte, wie beim amerikanischen Vorbild alle Rollen von einer Person spielen zu lassen. Aber: „Dieses Material ist – sagen wir mal – etwas mehr Landschaft, also nicht so sehr die Pointe.“

Apropos Landschaft – anders als bei der Fernsehverfilmung der Loestschen „Nicolaikirche“, die das Kunststück fertigbringt, eine sächsische Landeshauptstadt ganz ohne sächselnde Sachsen auskommen zu lassen, sind im Pohlschen Wartesaal diverse Dialekte zu hören. „Dialekt ist immer dort“, meint Pohl, „wo man ihn herstellt, wie um eine Hand von einer Figur oder ein Gesicht zu zeigen, weil es ein Ausdruck von etwas ist. Als Dekoration interessiert es mich nicht.“ Bis auf eine Ausnahme werden alle Figuren, ob alt oder jung, Mann oder Frau, von den vier Schauspielerinnen Margit Bendokat, Elsa Grube-Deister, Eva Weißenborn und Stefanie Stappenbeck gespielt. Bendokat, Grube- Deister und Weißenborn sind gestandene Schauspielerinnen des Ensembles und wahre Weibsbilder, die berlinernd, sächselnd oder hessisch babbelnd auch einen Prachtkerl abgeben können.

Die junge Stefanie Stappenbeck mimt den Typ Jungarbeiterin oder ewiger Student, für sie ist es schwer gegen die schnarrende Stimme der Bendokat, das Allroundtalent der Weißenborn oder die Putzfrauenherrlichkeit der Grube-Deister anzuspielen. Klaus Pohls Stücke aus den 80er Jahren, „Das alte Land“ und „Balcona Bar“, behandelten die Nachkriegszeit. Nach der Wende schrieb er „Karate-Billy kehrt zurück“ und „Die schöne Fremde“, zwei Stücke, die spiegelbildlich die veränderte Lage in Ost und West mit Stasi-Verstrickung und Fremdenhaß beschrieben. Im kruden Kolportagestil, der dennoch bis heute die aktuellsten Stücke zum Thema hervorgebracht hat. Aber nun heißt es bei Pohl nicht mehr Kolportage, sondern Reportage, nicht mehr Fiktion, sondern Dokumentation.

„Es ist richtig“, sagt Pohl, „ich hab' für meine Themen immer recherchiert. Diesmal wollte ich mich nicht über eine Fabel in die ganze Geschichte einmischen, das Material so konzentriert und so authentisch wie möglich selbst zu Wort kommen lassen.“ Zwanzig Personen haben manchmal nur zwei Sätze, manchmal fünf Minuten, um ihre Lebensgeschichte preiszugeben. Drei Musiker machen Zwischenmusiken, viele Geschichten entbehren nicht der Absurdität des Alltags und der Vereinigungswirren. Alles geht recht flott und lustig über die Bühne, bis am Ende der 75jährige Schauspieler Rolf Ludwig auftritt. Selbst vor nicht allzu langer Zeit von schwerer Krankheit genesen, erzählt er mal zittrig- gebrochen, mal mit jungenhaftem Stolz die Lebensgeschichte eines Malermeisters, der Jahre in DDR- Knästen zugebracht hat, dann nach Australien ausgewandert ist und dort im Fernsehen die Wende verfolgt hat. Da ist er zurück in seine Heimatstadt an der Neiße, hat noch mal einen Betrieb aufgemacht – bis ihm die Banken den Kredit abgedreht haben. Nun ist er ruiniert, selbst eine Ruine.

„Die sind emigriert, ohne auszuwandern“, meinte die Stolpe-Referentin, die nach der Wende einen Schweißdrüsenabzeß bekommen hatte, über ihre Mitbürger. Nun warten sie. Worauf sie warten? Klaus Pohl sagt: „Auf irgendeine Art von Normalität, wo die Menschen ihrem Alltag nachgehen können, ohne von den Anmaßungen der Politik drangsaliert zu werden. Seit vielleicht fünf Jahren entwickelt es sich dorthin, wo andere Länder schon länger sind. Man ist weggegangen von einer Geschichte und befindet sich in einem Raum oder einer Zeit, die in so ein Wendegrau gehüllt ist, wo man nicht weiß, wohin sich das entwickeln wird.“ Klaus Pohl wartet nicht ab und fliegt demnächst nach New York zurück. Dort wird er im März kommenden Jahres ein neues, eigenes Stück – mit Barbara Sukowa und Wallace Shawn – inszenieren: „eine Geschichte über den Faust, der am Ende des Jahrtausends in Amerika noch ein Geschäft zu erledigen hat“. Derweil wollen sogar die Engländer den „Wartesaal Deutschland“ besichtigen; ab dem 9. November wird das Stück in Manchester gezeigt.

„Wartesaal Deutschland Stimmenreich“ von Klaus Pohl; mit Eva Weißenborn, Margit Bendokat, Elsa-Grube Deister, Stefanie Stappenbeck, Rolf Ludwig. Deutsches Theater/ Kammerspiele Berlin. Nächste Aufführungen: 31. 10., 12., 15. und 21. 11.