"Wir haben zuwenig getan"

■ "Gemischte Städte sind auf der ganzen Welt die größte Herausforderung" - ein Gespräch mit Teddy Kollek, dem ehemaligen Bürgermeister von Jerusalem

taz: Teddy Kollek, wie multikulturell ist eine Stadt, in der die Bevölkerungsgruppen nebeneinander leben, ohne sich für die anderen besonders zu interessieren?

Teddy Kollek: Jerusalem ist eine Stadt mit verschiedenen Nationalitäten, Religionen und Kulturen. Gehen Sie nachmittags in die Gärten Jerusalems, und Sie werden sehen, daß sich dort Juden und Araber mischen. In Amerika geschieht das nicht. Ich bin mir auch nicht so sicher, wie sehr der Austausch zum Beispiel in Berlin zwischen Deutschen und Türken funktioniert. Die Welt muß sich daran gewöhnen, daß es gemischte Städte gibt. Viele weiße New Yorker sind bestimmt jahrelang nicht in den schwarzen Vierteln gewesen, und dasselbe Problem haben wir auch hier in Jerusalem. Aber ich behaupte eben, daß es in New York, Washington oder London nicht viel anders ist. Nur hält man es dort für selbstverständlich. Gemischte Städte sind auf der ganzen Welt die große Herausforderung unserer heutigen Zivilisation.

In letzter Zeit sind viele jüdische Einwanderer aus Rußland nach Israel gekommen. Wie funktioniert die Integration?

Insgesamt sehr gut, erst recht, wenn man bedenkt, was Sie in der Bundesrepublik schon für Probleme allein zwischen Ost- und Westdeutschen haben. Es gibt überhaupt keine Probleme in den Schulen, weder mit den russischen Einwandererkindern noch mit den äthiopischen. Probleme gibt es dagegen mit den über Fünfzigjährigen. Nehmen Sie etwa einen über fünfzigjährigen Mathematiker oder Ingenieur aus Rußland. Wenn er in Israel überhaupt eine Arbeit findet, die seiner Qualifikation entspricht, muß er sich an andere Technik gewöhnen. Hinzu kommen eine neue kulturelle Umgebung und eine fremde Sprache. Das fällt sehr schwer, aber dieselben Probleme hatten die Einwanderer, die in den dreißiger Jahren aus Deutschland nach Palästina kamen.

Würden Sie zustimmen, daß sich heute der jüdische, ebenso wie der moslemische, Fundamentalismus auf dem Vormarsch befinden?

Leider ja, wie im übrigen auch der christliche Fundamentalismus. Ich weiß nicht so genau warum, aber zweifellos ist diese Entwicklung weltweit zu beobachten.

Im Jahr 2000 wird Jerusalem womöglich einen orthodoxen Bürgermeister haben.

Das ist eine große Schwierigkeit. Die Orthodoxen streben danach, aus Jerusalem eine orthodoxe Stadt zu machen, in der wir alle so leben sollen, wie sie es wollen. Ich sehe nicht, wie sich dieses Problem lösen läßt. Jedenfalls wird es noch komplizierter werden, als mit der arabischen Seite einen Ausgleich zu erzielen.

Die Palästinenser beklagen zahlreiche Schikanen. Vor allem sei Israel bestrebt, das arabische Jerusalem an einer Ausdehnung zu hindern.

Also zunächst: Vor 1967, als die Altstadt Jerusalems noch jordanisch war, ist es entgegen bestehender Vereinbarungen den Juden nicht erlaubt gewesen, an der Klagemauer zu beten. Dagegen haben wir den Tempelberg den Arabern gelassen. Wir haben ihnen auch die eigene Verwaltung aller religiösen und erzieherischen Angelegenheiten gelassen. Es trifft im übrigen auch nicht zu, daß Israel die arabische Bevölkerung irgendwie abschneiden will. Vielmehr bestand aufgrund der Erfahrungen von vor 1967 der geographische Gedanke darin, durch Ansiedlung und die genau kalkulierten Stadtgrenzen Verbindungen herzustellen. Einmal, um die Abspaltung jüdischer Bevölkerung zu verhindern, und zum anderen, um die Kontrolle des Jerusalemer Flughafens zu gewährleisten.

Der arabische Ostteil von Jerusalem bekommt im Vergleich zu den jüdischen Vierteln nur einen Bruchteil an öffentlichen Mitteln. Von Gleichstellung kann da keine Rede sein.

Also, immerhin gibt es in Ost- Jerusalem auch eine moderne Klinik mit arabischen Ärzten und Schwestern und täglich 1.400 Patienten. Aus Mitteln der Jerusalem- Foundation ist gerade eine Gewerbeschule entstanden, und als mir der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, habe ich das Geld, mit noch anderen Mitteln, dazu verwendet, eine arabische Bibliothek einzurichten. Die ist so gut gelungen, daß Hamas versucht hat, sie anzuzünden. In dieser Bibliothek finden Sie die gesamte arabische Literatur. In Ägypten kriegen Sie dagegen kein Buch, das in Syrien erschienen ist oder in Algerien. Gleichwohl: Es ist richtig, wir haben zuwenig getan für die arabische Bevölkerung.

Können Sie sich für Jerusalem ein Verwaltungsmodell vorstellen, das den Ansprüchen beider Seiten gerecht wird?

Die Lösung dieser Frage hängt nicht von mir ab, und ich habe auch kein Patentrezept. Man muß sich zunächst klarmachen, daß die meisten Menschen, die in Jerusalem leben, nicht mit Demokratie aufgewachsen sind: Alle stark religiösen Juden, alle Araber, alle Christen unter ihrem Patriarchen, alle Emigranten aus Rußland oder Chile. Damit ist verbunden, daß die Menschen oftmals keine Eigeninitiative entwickeln, sich um die Angelegenheiten in ihrer Umgebung zu kümmern. Wir haben deshalb begonnen, im jüdischen wie im arabischen Teil Bezirksverwaltungen zu schaffen. Gewählten Vertretern wird dabei die Verantwortung für bestimmte kommunale Aufgaben übertragen. Vielleicht liegt ja hier auch der Ansatz für eine Selbstverwaltung der Palästinenser in Ost- Jerusalem.

Welche Bedeutung hat Jerusalem für den Fortgang des Friedensprozesses insgesamt?

Eine große symbolische Bedeutung. Wenn es in Jerusalem keine großen Komplikationen gibt, dann wird das unerhört viel helfen. Wenn es dagegen hier zu großen Konflikten kommt, wird das den ganzen Friedensprozeß stark behindern.

Was macht den besonderen Reiz aus, den Jerusalem seit vielen Jahrhunderten auf die Menschen und die verschiedenen Kulturen ausübt?

Der Einfluß der Bibel auf die ganze Welt. Schauen Sie, es gab stets Kinder irgendwo auf der Erde, die mehr über Jerusalem wußten als über ihre eigene Stadt. Und dieses Phänomen hat sich über Jahrhunderte fortgesetzt und verstärkt.

Wagen Sie eine Prognose, ob es in Jerusalem eine friedliche Zukunft für Israelis und Palästinenser geben wird?

Es wird sicher Spannungen geben, ohne Spannungen kann es nicht abgehen. Aber über die Spannungen hinweg werden sich die verschiedenen Gruppen treffen und die Fragen der Stadt lösen. Daran habe ich überhaupt keinen Zweifel.

Interview: Ralf Melzer