Auf dem ersten medizinischen Cannabis-Kongreß am Wochenende in Berlin berichteten Forscher über neue Einsatzfelder von Haschisch und Marihuana. Ein uraltes Heilmittel wird neu erforscht – und in Deutschland unverändert kriminalisiert. Ein Musterprozeß ist überfällig Aus Berlin Manfred Kriener

Mögliche Nebenwirkung: Knast

Das Ende war ganz leise. Als Sabine Nitz-Spatz auf das Podium stieg und als Sprecherin einer Selbsthilfegruppe von Krebs-, Aids- und Multiple-Sklerose-Patienten den ungehinderten Zugang zu Cannabis verlangte, war es still. „Wir erleben täglich die heilende und lindernde Wirkung, und wir sind es leid, uns das Cannabis auf illegalem Weg besorgen zu müssen.“

Krebskranke beim Dealer, Aidspatienten, die sich in Deutschlands Großstädten heimlich in türkischen Cafés herumdrücken, Rollstuhlfahrer auf der Szene – ungesunder Alltag in Deutschland. Nitz-Spatz forderte die Cannabis- Gegner auf, sich nicht länger in ihren Amtsstuben zu verschanzen und sich endlich der Diskussion zu stellen.

Beim ersten deutschen Mediziner-Kongreß über den Gebrauch von Cannabis waren Kranke, Ärzte und einschlägige Wissenschaftler in Berlin noch unter sich. Immer größer wird die Zahl ihrer Studien, die den positiven Effekt einer Medikation mit Marihuana und Haschisch zeigen. Und immer absurder wird eine Drogenpolitik, die Cannabis auf dieselbe Stufe mit Kokain und Heroin stellt und selbst den medizinischen Einsatz kriminalisiert.

Daß mutigen Ärzten dennoch ein kleiner, wenn auch mit Restrisiken behafteter Spielraum bleibt, um ihren Patienten zu helfen, begründete der Bremer Kriminologie-Professor Lorenz Böllinger. Der Gesetzgeber hat Cannabis zwar als „nicht verkehrsfähig“ eingestuft und damit ausdrücklich verboten, in welcher Form auch immer. Dennoch sieht Kriminologe Böllinger durchaus Einsatzmöglichkeiten, wenn „Gefahr für Leib und Leben der Patienten besteht“.

Erfolgreicher Einsatz bei Alkoholentzug

Ein solcher Notstand könne die Anwendung von Cannabis im Einzelfall rechtfertigen. Über den reinen Gesetzesverstoß hinaus müsse dem Arzt ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden. Wenn Cannabis bei starker Gewichtsabnahme eines Aidspatienten oder gegen die schwere Unverträglichkeit einer Krebs-Chemotherapie empfohlen werde, sei ein solch schuldhaftes Verhalten schwerlich zu erkennen. Allerdings: Der Nachweis müsse erbracht werden, daß Cannabis die beste Alternative sei, und die Anwendung müsse „kontrolliert und kunstgerecht“ erfolgen.

Keinesfalls, warnte Böllinger. dürfe der Patient auf den Schwarzmarkt verwiesen werden. Der Arzt solle vielmehr den Stoff selbst besorgen und ihn – dies sei gesetzlich zulässig – von einem Apotheker auf Qualität und Konzentration prüfen lassen. Dann sei die geeignete Dosis und Applikationsform zu wählen.

Jenseits solch juristischer Verrenkungen, die einer unfreiwilligen Komik nicht entbehren, rief Böllinger die Ärzte auf, einen gut vorbereiteten Musterprozeß zu riskieren. Wichtigste Voraussetzung: der gezielte „Gesetzesverstoß“ sollte im Zuständigkeitsbereich möglichst liberaler Staatsanwälte und Gerichte geschehen. Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Entspannung – bei drei bis fünf Millionen regelmäßigen Cannabis-Rauchern in Deutschland – sieht Böllinger gute Chancen, den Musterprozeß zu gewinnen, zumal die Ärzte in einem echten Gewissenskonflikt „gleichrangiger Rechtsnormen“ stehen: Sie sollen heilen und helfen, aber auch das Betäubungsmittelgesetz beachten.

In Berlin hat ein Arzt bereits vor laufender Kamera erklärt, daß er bestimmten Patienten Haschisch empfehle. Doch die Justiz versagte kläglich: Bis heute wird gegen den Arzt weder ermittelt, noch wurde er vor den Kadi gebracht.

Während in der Bundesrepublik noch die alte Klassifikation von Cannabis als Zerstörungsdroge erster Klasse in Kategorie I des Betäubungsmittelgesetzes fortbesteht, sind selbst in konservativen Nachbarländern Aufweichungen zu beobachten. In Großbritannien, berichtete Hanf-Experte Michael Karus, gebe es seit vergangenem Jahr Ausnahmeregelungen für bestimmte medizinische Anwendungen. In der Schweiz werden die Hanfbauern zwar nach wie vor als „Drögerli“ beschimpft, ihre Felder überfallen und nächtens abgeholzt. Aber der Swissair-Angestellte Ludwig Lasser (*) erreichte immerhin, daß er seine Verdauungsbeschwerden legal mit Cannabis-Tinktur behandeln darf. Die Krankenkasse zahlt, Swissair hat Lasser inzwischen allerdings gefeuert.

Mediziner aus Jamaika, der Schweiz, Deutschland und den Niederlanden präsentierten auf dem Berliner Kongreß eine Reihe neuer Einsatzfelder für Cannabis. Der Jamaikaner Frederic Hickling berichtete vom erfolgreichen Einsatz beim Alkoholentzug. Jamaika, beim Cannabis-Konsum weltweit in der Spitzengruppe, habe „so gut wie keine Probleme mit harten Drogen“. Cannabis sei ein potenter Schutzwall gegen die Invasion von Heroin, Crack und Koks.

Der Schweizer Pharmakologe Rudolf Brenneisen gab sich optimistisch. Eine Schweizer Pilotstudie zum Cannabis-Einsatz bei neuralgisch bedingten Spastiken habe „politisch viel in Bewegung gebracht“. Dabei ist das Wort Studie beinahe schon hoch gegriffen. Ein Zürcher Student behandelte für seine Dissertation zwei (!) Patienten mit „Marinol“, dem synthetisch hergestellten und in den USA zugelassenen Cannabinoid Delta-9-THC (20 Pillen kosten 350 Mark, die vergleichbare Menge Haschisch kostet keine 10 Mark).

Patienten sollen sich nicht „stoned“ fühlen

Obwohl die Dosis sehr niedrig war, weil sich die Patienten zu keiner Zeit „stoned“ fühlen sollten, zeigten sie deutliche Besserung. Die Gehzeit für eine definierte Kurzstrecke nahm immer dann ab, wenn die Konzentration der im Blutspiegel gemessenen Arznei anstieg. Schmerzen und Steifheit gingen zurück, Beweglichkeit und Lebensqualität nahmen zu. Eine Folgestudie mit größerer Patientenzahl und höherer Dosis ist inzwischen auf den Weg gebracht.

Eine angemessene Dosis zu wählen war bei der Erststudie mit Rücksicht auf die Genehmigungsinstanzen nicht möglich gewesen. Der medizinische Gebrauch von Cannabis, sagte Hans-Josef Linkens von der Deutschen Aids-Hilfe, muß offenbar vom Genußaspekt abgekoppelt werden. Sonst könnte das Dogma von der „bitteren Pille“ erschüttert werden.

Bekannt ist der erfolgreiche Einsatz von Cannabis gegen die manchmal lebensbedrohlichen Gewichtsverluste bei Aids. In welchem Ausmaß der Appetitmacher Cannabis hier helfen kann, belegen die Zahlen des Niederländers Robert Gorter, der in Amsterdam und San Francisco Aidskranke mit „Marinol“ behandelte. Ergebnis: Nach sechs Wochen waren die Cannabis-Patienten im Schnitt 1,9 Kilo schwerer, ihre Stimmung war besser, und sie klagten seltener über Übelkeit. Nebenwirkungen: keine. Längst hat Gorter auch für die Bundesrepublik eine ähnliche Studie beantragt. Doch die Mühlen von Ethikkommission, Bundesopiumstelle und Arzneimittelinstitut mahlen langsam.

Der Berliner Schmerztherapeut Andreas Ernst legte Patientenberichte über die lindernde Wirkung von Cannabis bei Migräne, Neuralgien und Rückenmarkschäden vor. Ein von ihm betreuter querschnittgelähmter Patient, der trotz hoher Morphiumdosen immer wieder über Schmerzen klagt, bekommt diese mit Haschisch relativ gut unter Kontrolle. Inzwischen ist seine erfolgreiche Eigentherapie allerdings gefährdet. Zum Hausbesuch erschien zuletzt nicht der Arzt, sondern die Polizei und stellte sein Schmerzmittel sicher. Als Nebenwirkung drohen dem Araber jetzt Knast und Abschiebung.

(*) Name geändert