Gefühle, ja bitte!

■ Das neuen Kito-Kolleg „Gefühle“ trägt einem Trend Rechnung: Nach den Frauenzeitschriften entdecken jetzt die Theoretiker das Gefühl/ Morgen erster Vortrag

Glaubensbekenntnisse sind etwa so wichtig wie Zigaretten und Bier. Welche politische Diskussion kommt schon aus ohne Überzeugungssätze wie: „Brecht dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten“, „Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment“und „Ho-Ho-Ho Chi Minh“ oder noch vor zehn Jahren „Atomkraft, nein Danke“. Wie die Zeit vergeht. „Wir glauben an die Macht der Gefühle“ sagt heute, ohne rot zu werden, Jürgen Meierkord, der für das Kito die Kolleg-Reihen konzipiert. Nach den Themen „Psychoanalyse“, „Angst“ und „Orientierungen“ werden in der neuen, hochkarätig besetzten Vortagsreihe nun die „Gefühle“ entdeckt. Selbsterfahrung in der Teppichboden-Landschaft? Beileibe nicht.

Noch vor zehn Jahren hätte man das Thema „Gefühle“ ohne Bedauern den Frauenzeitschriften überlassen, sagt Meierkord. Daß man nun ein ganzes Kolleg dafür hergibt, sei einem Trend in der akademischen Landschaft geschuldet, die damit nur auf eine gesellschaftliche Entwicklung reagiere. Überall würden Gefühle wegrationalisiert – die Klage über den Mangel an Leidenschaft hören Ärzte und Therapeuten gleichermaßen. Jetzt werden die Theoretiker befragt. „Vielleicht ist Verstand nichts als eingedicktes Gefühl“, konstatiert Meierkord die Entwicklung.

Seit Beginn der Kito-Kollegien war der Erfolg dieser Reihe sichtbar. „Oft mußten wir die Öffentlichkeitsarbeit ganz bewußt stoppen, weil die 200 Karten für die Vorträge schon Wochen zuvor ausverkauft waren.“ Den Grund dafür sieht Jürgen Meierkord im durchgehend hohen Niveau der Vortragenden: Thomas Ziehe, Eva Jaeggi, Bernd Nitzsche und weitere Prominente fanden bisher den Weg nach Bremen-Nord. Den wies ihnen Meierkord, der seit Jahren den theoretischen Diskurs verfolgt. Sein Geheimrezept: „Im Grunde verfolge ich die Edition der Reihe ,Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft', das gibt eine gute Meßlatte für das Niveau, auf dem sich die Diskussion bewegt.“

Denn die Diskussion ist das Hauptanliegen der Veranstalter. Es ist schon ein Phänomen, 1995 stürmen BremerInnen nach Vegesack um die hohe Kunst des Denkens zu goutieren. Ein neuer, gegenläufiger Trend? „Ich komme aus der Studenten-Bewegung“, erläutert Jürgen Meierkord; „In den letzten Jahren fanden politische Gespräche nur noch privat und in Kneipen beim Bier statt. Jetzt entsteht wieder ein Milieu in dem öffentlich gestritten wird.“

Zu Themen wie: „Kastrationsangst heute“ oder auch „Das gute und das gerechte Leben“ kommt das Publikum aus Bremerhaven, Cuxhaven und Oldenburg. Auffällig, die Bremer Hochschullehrer, eigentlich doch das Fachpublikum der renommierten Referenten, verirren sich äußerst selten in die Vortragsreihe. Sonst setzt sich das Publikum aus Interessierten zusammen, von denen man vermuten muß, daß „sie gern denken“. Schließlich sollen hier „Lebensmöglichkeiten durchdekliniert werden“ (Meierkord) und über „Denken als Probehandeln“ etwas herausgefunden werden. Natürlich erreiche man auch „Leute die neugierig auf die eigene Seele sind“.

Da werden Erwartungen konkret. Und Irritationen deutlich. Als Single-Forscherin Eva Jaeggi aus Berlin in ihrem Vortrag noch fröhlich formulierte „Ich sag' mir selber Guten Morgen“ und unter diesem Titel die „Psychoanalyse einer Lebensform“ vorstellen wollte, blies ihr der Wind ins Gesicht. Plötzlich saßen da „Leute, die vielleicht ihr Single-Dasein nicht als die Krönung einer unabhängigen Lebensform betrachteten“ . Gegenfrage eines lesenden Arbeiters: „Frau Jaeggi, wie kommen sie darauf, daß Singles so gut ausgestattet sind?“ Nun ja, es war eine Feldstudie unter Berliner Intellektuellen. Nicht eben die typische Erhebungsgruppe für Alleinstehende, die noch immer in den Kontaktanzeigenspalten nach dem Partner fürs Leben suchen.

Susanne Raubold

Morgen um 20 Uhr Heiner Keupp: „Freude aus Verunsicherung schöpfen – über den Umgang mit riskanten Freiheiten“; Kito, Alte Hafenstr. 30