Heimweh nach dem Bleistift

Ein Mindestmaß an philosophischer Skepsis scheint notwendig: Einige Anmerkungen zur Interaktivität nebst einer kleinen Abhandlung über die Sprache und das Esperanto interaktiver Idiome  ■ Von Andrei Codrescu

Nachdem ich nun zwei Tage lang den Diskussionen über die neuen Medien zugehört habe, komme ich mir vor wie der alte Jude in der Sowjetunion, der noch unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Kommunismus emigrieren wollte. Er bat die Grenzwache um einen Globus, um zu sehen, wohin er gehen könne. Nachdem er ihn sich genau angesehen hatte, gab er ihn zurück und fragte: Haben Sie nicht noch einen anderen?

Nichts von dem, was ich hier gehört habe, konnte mich davon überzeugen, daß der utopische Globus, der mir hier präsentiert wird, ein lebenswerter Ort ist. Es läßt sich sogar anzweifeln, ob es ihn überhaupt gibt. Wie Gott und die Utopie hängt seine Existenz weitgehend davon ab, ob man an ihn glaubt. Vielleicht ist auch der Cyberspace nur eine Utopie, genau wie die, der der alte Jude entfliehen wollte.

Der Kommunismus war eine virtuelle Welt, von Bestand nur in den Köpfen der Machthaber – und der Polizei, die dafür sorgte, daß die Menschen nicht vom Glauben abfielen. Was ist, wenn der Cyberspace sich lediglich als Sammelbehältnis einer neuen Masse von Gläubigen entpuppt? Gläubige, die sich für Angehörige einer Gemeinschaft und für offen halten („Wer zuerst denkt, denkt am besten“, Allen Ginsberg), denen jedoch in Wirklichkeit lediglich ein imaginärer Raum im Besitz einer fremden militärischen Macht (d.h. der unseren) ihre Zeit, ihre Energie und ihren Körper abpressen?

Man mag es Überempfindlichkeit für utopische Enttäuschungen nennen, aber ein Mindestmaß an philosophischer Paranoia ist angebracht. Ist Interaktivität eine raffinierte Tür im Fernsehen, die sich in ein anderes Fernsehen öffnet, ein großes Telefon mit Bildern und Tönen? Oder wird hier das bißchen, was den ihrer Sinne beraubten Menschen geblieben ist, noch einmal völlig neu umgestaltet?

Unter den vielen sinnlosen Jargonbegriffen, die ich bei dieser Konferenz nur allzuoft zu hören bekam, war der Inhalt. Ich hörte Erwachsene nach Inhalt schreien, so wie Gläubige nach einem Erlöser rufen, nach einem Messias. Wir haben die Formen, oh himmlischer Chip, jetzt gib uns den Inhalt! Aber genau das wird natürlich nicht passieren, und wenn noch so viel Designerschweiß für die „Inhaltsverbesserung“ vergossen wird, denn die Form geht dem Inhalt nie voraus. Form ist immer eine Dimension des Inhalts. Shakespeare hat nicht das Drama erfunden und dann ein bißchen Inhalt hineingekippt. Alles ist Inhalt, wir ertrinken darin. Ärgerlich ist nur, daß es bloßes Rohmaterial ist und keine Kunst. Aber Kunst ist das, was wir wirklich brauchen.

Erlauben Sie mir eine willkürliche Konstruktion. Etwa zwei Wochen lang habe ich vor dieser Konferenz in den Zeitungen und manchmal im Radio auf die Erwähnungen von Computern und den dazugehörigen Phänomenen geachtet. Ich habe sie nicht herausgesucht. Es sind lediglich die beiläufigen, zufälligen Versatzstücke, die durch die Aufmerksamkeitsfelder eines durchschnittlichen Zeitungslesers und weniger als durchschnittlichen Fernsehzuschauers huschen. Ich bin sicher: Hätte ich besonders darauf geachtet, hätte ich mehr gefunden...

Es ist Donnerstag, der 25. Mai 1995, und wir lesen „Liebe auf den ersten Megabyte“, von Sherri Winton, einem Artikel mit der Unterzeile „On-Line-Intimitäten verbreiten sich wie ein Virus“. Man beachte, wie geschickt Sherri – oder der Verfasser der Überschrift – vorgeht: Eine ganze Sammlung an Interaktivität wurde hineingepackt: ein Vampirbiß gesellt sich zum Megabyte, menschliche Viren werden mit Computerviren assoziiert. Mensch und Maschine sind so unauflöslich gemischt, daß man die Verbindungsstücke kaum noch wahrnimmt.

Und Sherri geht, Absatz um Absatz, ebenso geschickt weiter vor, wenn sie Räume voller Menschen beschreibt, die angeregt über intime Details diskutieren, die „Liebende normalerweise nicht miteinander teilen“. Sie beschreibt diese Räume für „nicht mehr als 23 Menschen“ als reale Räume, bis sie schließlich und unvermeidlich ihre Virtualität preisgibt. In der Gewitztheit dieser vorhersagbaren Enthüllung steckt mehr als bloß schlechte Schreibe.

Sherri liefert uns einen derzeit geläufigen Gemeinplatz: Virtualität ist wirklich ganz toll. Sie ist ganz wie Realität, nur besser, weil sie nur virtuell weh tut. Außerdem ist sie auch besser, weil sie richtig schlimm ist. Man beachte, daß diese Liebesräume „bis zu 23 Menschen“ Platz bieten, was ein bißchen ironisch klingt, aber auch die Assoziation einer Orgie herauskitzelt. Bei einer richtigen Orgie

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würde sich Sherri natürlich ums Verrecken nicht erwischen lassen, aber eine virtuelle Orgie, Mensch, the sky is the limit, lang lebe die Phantasie!

Die Amerikaner haben einen Informationsfetisch, obwohl längst nachgewiesen ist, daß Informationen niemanden klüger oder zu einem besseren Menschen machen. Tatsächlich ist das Gegenteil wahr. Je mehr Informationen wir aufnehmen, desto blöder und gemeiner werden wir. Die einfache Erklärung dafür ist, daß das Verschlingen von Infos keine Zeit mehr zum Nachdenken läßt.

Information ist nutzlos ohne die Zeit, in der wir darüber nachdenken können, was sie bedeutet. Wir wissen alles, aber wir verstehen nichts. Für sich allein ist Information so nutzlos wie aus dem Zusammenhang gerissene Worte. Wie die Sprache, die tot ist ohne die lebendige Stimme des Sprechers, ist Information nichts als eine tote Masse ohne den lebendigen Atem des Interpreten.

Und dennoch: die Zeit zum Nachdenken und Interpretieren ist genau das, was uns der neue Stil der besinnungslos konkurrierenden Medien vorenthält. Die unbegrenzt modulare Natur visueller Bilder vermag außergewöhnliche Mengen an Information in immer kleinere Zeiteinheiten zu packen. Menschen können das gar nicht mehr aufnehmen, nur noch Maschinen, die ja ausdrücklich dazu da sind, den ganzen Kram zu speichern. Je mehr Infos auf uns losgelassen werden, desto mehr Maschinen brauchen wir, um sie zu speichern, und desto mehr Verzeichnisse, um sie wieder aufzuspüren.

Immer mehr mechanische Hilfen scheinen uns entsprechend mehr freie Zeit zum Interpretieren zu gewähren, aber paradoxerweise ist das nicht der Fall. Hören Sie sich bei Gelegenheit die Geschichte meiner zwölf Computer an. Und die Geschichte meiner zwölf Schreibmaschinen davor. Und mein Heimweh nach der Zeit, als man einen Gedanken auch mit einem Bleistift niederschreiben konnte.

In der Sommer-Ausgabe 1995 des Schriftstellermagazins AWP Chronicle, findet sich ein Artikel mit dem Titel „Mythen und die Internet-Gemeinschaft“, Unterzeile „Verschwindende Autoren & verschwindende Leser“. Der Autor, W. Scott Olsen, beginnt mit einem Lob seiner „mythischen Gemeinschaft“, all der Schriftsteller im ganzen Land und überall auf der Welt, die sich an einer lebhaften Diskussion über das Schreiben beteiligen.

Er zitiert eine Warnung aus dem Eröffnungsinsert eines Programms namens Write MUSH: „Nicht vergessen: Dies ist ein Spiel, in dem Menschen Rollen spielen. Niemand sagt Ihnen, wie sie außerhalb des Spiels sind, Sie erfahren nur, was Sie selbst über sich sagen. Caveat Emptor.“ Olsen kommentiert, „die mythische Gemeinschaft werde zunehmend zu einem Ersatz für die reale Gemeinschaft“.

Darin liegt ein interessanter Gedanke. Das Ziel guter Kunst lag, soweit ich weiß, immer darin, ein Stück Wahrheit über menschliche Wesen zu enthüllen: Die Wahrheit, die gerade jenseits des Netzes aus Täuschungen und Virtualitäten liegt, das jedermann um sich zu weben sucht. Eine der wichtigen Fragen der Literatur galt immer der Spannung zwischen der literarischen und der privaten (oder realen) Person. Die Literatur untersucht dieses Problem im Licht der Gesellschaft und ihres Drucks auf die Individuen, etwas anderes vorzugeben, als sie sind.

Das World Wide Web (ein passender Name) ermutigt zur Übernahme von Rollen. Es steht damit der uns bekannten Kunst entgegen. Es fördert die Herstellung von Masken und verhindert, anderes wahrzunehmen als das Dargestellte. Man könnte sagen, es eigne sich besser für Erpressung und Schwindel als für die Enthüllung der Wahrheit. Das läßt sich allerdings auch von jeder schriftlichen oder mündlichen Äußerung sagen, die keine Kunst ist. Für den Künstler stellt sich dann die Frage: Wie kann man im interaktiven Idiom den Raum zwischen Maske und Person am besten erforschen? Ist das überhaupt möglich? Oder ist das Medium von Grund auf postmodern in dem Sinne, daß es wie bei einer Zwiebel nur Schalen gibt und keine Wahrheit?

Am 28. Mai 1995 schreibt James Mayer von Newhouse News unter der Überschrift „Der Kulturzusammenstoß im Cyberspace erzwingt ethische Grenzen“, ins Internet kämen Millionen Interessierte, die Kulturzusammenstöße mit sich brächten. Und er meint, das werfe Fragen auf: „Sollten explizit sexuelles Material, Haßtiraden oder anderes potentiell anstößiges Material wie Anleitungen zum Bombenbasteln kontrolliert werden? Ist Kontrolle in einer elektronischen Welt ohne Grenzen und zentrale Autorität überhaupt möglich? Wie können wir in einem sich ständig erweiternden Informationsuniversum unsere Privatsphäre schützen? Wie schaffen wir ein Gleichgewicht zwischen Anonymität und Verantwortlichkeit in einer Welt, in der Menschen überall hingehen können, sich beliebig verwandeln und alles sagen können? Kann der Cyberspace den Kommerz überleben? Kann er ohne ihn überleben? Wie lange wird es dauern, bis auf der Informationsautobahn alle paar Meter eine Plakatwand steht?“

Anschließend prüft Mayer einige anstehende Gesetzesentwürfe zu diesen Fragen und kommt zu dem Schluß, im Cyberspace „gibt es immer noch eine offene Grenze, weil er gemeinsam mit der Bevölkerung wächst. Er ist weniger die letzte Grenze als vielmehr die ewig offene Grenze.“ Mayers Metaphern interessieren mich, weil sie meinem Erfahrungsbereich entstammen. Einwanderung, Grenze, offene Grenzen, Einschränkungen und Gesetze zu all dem – das ist ein Bereich, der mich in der realen Welt sehr interessiert, weil ich ein Einwanderer bin, weil ich Grenzen überquert habe, weil ich für Freiheit und freie Bewegung eintrete und ein Reisender bin. Aber was bedeuten all diese Dinge in der virtuellen Welt?

Diese Sorte Metaphern stimmte mich einigermaßen mißtrauisch, als ich las, Newt Gingrich unterstütze die allgemeine Verwendung von Computern. Er will sogar Fürsorgeempfängern besondere Kredite anbieten, damit sie sich einen Computer kaufen und zu Hause bleiben können. Statt auf der Straße herumzulungern, wie ich vermute. In der Praxis ist sein „Vertrag mit Amerika“ nichts anderes als ein Vertrag mit den Vororten. Der Idealfall des rechtsgerichteten republikanischen Amerika wäre eine Reihe kleiner Gemeinden, die durch Computer verbunden sind.

Die Städte sind auf dieser Landkarte offensichtlich gar nicht mehr vorhanden. Ich hatte schon immer den Verdacht, daß die Rechten dieses Landes in ihrem tiefsten Inneren am liebsten einen Feuerring um die Städte legen und sie sich ihrer Selbstzerstörung überlassen würden, denn schließlich leben ihre Feinde sämtlich in den Städten: Liberale, Juden, Neger, Einwanderer. Wäre es nicht viel besser, wenn die realen, städtischen Kulturlaboratorien durch das Gebrabbel virtueller Gemeinschaften ersetzt werden könnten, die nur noch Weihnachtswünsche und Börsentips austauschen?

An die Stelle des realen amerikanischen Jahrhunderts träte dann das virtuelle Jahrhundert Amerikas, ein blut- und leidenschaftsloser Ort, wo sogar die Kriege aus sicherer Distanz auf dem Heimcomputer ausgetragen werden können, ohne daß man auch nur ein einziges Mal das Gesicht des Feindes sehen müßte – statt dessen hätte man dann die glücklichen Gesichter von Techne vor Augen, der ewig lächelnden Virtualität.

***

Verstehen Sie mich nicht falsch: Im Reden nehme ich es mit jedem auf. Sprache verlangen mir Menschen ab im Austausch für mehr, also spreche ich. Gelegentlich verwende ich Sprache sogar aus schierem Vergnügen an ihrem Klang, wie sie im Ohr meines Mitmenschen widerhallt. Und mein Lohn ist das Vergnügen des Mitmenschen, Lohn für gute Verwendung von Sprache.

Unter anderem wissen wir von Sprache, daß ihre geschickte Verwendung lohnend ist. Mehrere Sprachen zu sprechen, ist mehrfach lohnend. Deshalb verbessern die Menschen ständig ihre Sprachen, erfinden Besonderheiten der Aussprache, füllen alte Geräusche mit neuem Sinn und kleiden ihr emotionales Repertoire in Sprache, so wie sich Soldaten zur Parade ankleiden. So weit, so gut – aber es ist ein ebenso großer wie verbreiteter Fehler zu glauben, Sprache übermittle die Wahrheit über den Zustand eines Menschen oder auch nur die Wahrheit über die eigenen Beobachtungen.

Die kommunikativen Fähigkeiten der Sprache sind stark eingeschränkt, obwohl dies doch gerade der Zweck zu sein scheint, zu dem wir sie benutzen. Sprache kann Dinge geschehen lassen: man kann einen Aufstand auslösen, jemanden zum Ausfüllen eines Schecks bewegen oder die eigene Mutter belügen, aber der Wahrheit kommt die Sprache auch nicht näher als Weinen oder in der Nase bohren. Die Wahrheit lautet, daß die Sprache ein virtuelles Kommunikationsmittel ist, und wie alles Virtuelle besitzt sie eine grenzenlose Fähigkeit zur Nachahmung von allem und jedem, einschließlich der Ernsthaftigkeit.

Der Schlüssel zu Sprache und Virtualität ist die Vorstellungskraft. In der Realität ist man vielleicht fett und pickelig, aber in Sprache und Virtualität ist man Nastassia Kinski. Weil Sprache erwiesenermaßen die Überlebens- und Zufriedenheits-Chancen erhöht, wurde sie zu einer Metapher für vieles außerhalb ihrer selbst. Man spricht zum Beispiel von einer „Körpersprache“, allen Signalen, die unser Körper aussendet. Es gibt „Tiersprachen“ und die „Sprache der Natur“, womit wohl die Fähigkeit gemeint ist, Muster zu erkennen und sie nach Belieben zu benennen.

Diese Sprachmetaphern sind nicht gleichbedeutend mit Idiomen. Idiome halte ich für von Sprache abgeleitete oder sprachlich organisierte Systeme, die genau wie Sprache funktionieren – mit dem entscheidenden Unterschied, daß sie Privateigentum sind, während die Sprache als Sprache allen gehört. Ein Idiom ist die Sprache eines Berufszweigs, einer Szene oder einer Subkultur. Was man das „interaktive Idiom“ nennt, ist ein Bandenjargon, der aus dem Ruder gelaufen ist und eine Art Esperanto zu werden droht. Esperanto, man erinnert sich, ist ein synthetischer Mischmasch, der von utopiebesessenen Enthusiasten entwickelt wurde, weil sie glaubten, eine rational von vernünftigen Menschen gesprochene Universalsprache könne unseren Hang zu gegenseitigem Gemetzel unterdrücken.

Sie glaubten, ohne diese unerklärliche Unfähigkeit, einander genau zu verstehen, könnten wir in unserer Welt so fröhlich leben, wie deutsche Hausfrauen in ihren Küchen zu leben schienen. Das soll kein Witz sein: Man muß sich nur den Unterschied zwischen einer deutschen Küche der Dreißiger und einer automatisierten amerikanischen Küche aus den Sechzigern vergenwärtigen. Für beide gilt dasselbe Wort, aber der Unterschied liegt nicht nur in Raum und Zeit. In den Dreißigern war die deutsche Küche Bestandteil des nationalsozialistischen Ideals für die deutsche Frau: Kirche, Küche, Kinder [deutsch im Original; d.Üs.], während die automatisierte amerikanische Küche der sechziger Jahre das Gegenteil ausdrückte und das Ideal der befreiten Frau im Zeitalter der Empfängnisverhütung und des offenen Arbeitsmarktes verkörpert.

Wenn nun amerikanische und deutsche Küchen, die zeitlich verhältnismäßig nahe beieinander liegen, derartige Unterschiede aufweisen können, stelle man sich eine chinesische Küche des elften Jahrhunderts vor, oder die Feldküche von Gilles de Rais, Jeanne d'Arcs monströsem Unterfeldherrn. Das kann man wahrscheinlich gar nicht, jedenfalls nicht auf der Stelle, aber es ist auch nur ein kleines Beispiel für das physikalisch affektive Universum, das Worte in jeder Sprache umgibt.

Auch das englische oder amerikanische „home“ ist nicht das französische „chez moi“. In dem Wort ist automatisch Geschichte, räumlicher Zusammenhang, Erinnerung, Geruch und Gefühl angesprochen. Es ist ein Zeichen höchster Toleranz, daß die Verfechter des Esperanto nicht sofort aufgeknüpft wurden, als sie mit diesem mutierten Horror, dieser vereinfachten Interaktivität ankamen...

Dem sogenannten „interaktiven Idiom“ drohen alle möglichen Fallgruben: 1. der Esperantismus, mit seiner Unterdrückung aller Unterschiede und seinen übermäßigen Vereinfachungen, 2. die Exklusivität einer patentierten Grammatik und 3. Grenzenlosigkeit...

Die menschlichen Idiome sind begrenzt, während das Maschinenidiom keine Grenzen kennt. Das interaktive Idiom mag sich als eine Einbahnstraßenunterhaltung erweisen: die unermüdliche Maschine redet unablässig weiter, während der erschöpfte Mensch längst verstummt ist. In Wirklichkeit haben wir es vielleicht mit dem aktiven Idiom zu tun, mit der Maschine gegen das Schweigen der Menschen. Die Fähigkeit der Maschine zur unendlichen Wiederholung wird mit Sicherheit jedes andere Idiom unterdrücken, insbesondere jedes menschliche, und ein endloses und passives Esperanto hervorbringen.

Gerade deshalb halte ich es für so wichtig, daß wir zu der realen Position, zu den realen Dimensionen der Sprache zurückkehren, in einem lebendigen, geheimnisvollen und viel umfassenderen Universum, als es die Geräusche umgrenzen, die wir untereinander austauschen. Wir müssen Sprachen, Idiome und Kommunikation in einer Perspektive halten. Sie sind empfindliche Konstrukte, umgeben von weiten Bereichen des Unausgedrückten, Unartikulierten und Unentdeckten. Zugleich bewegen wir uns auf einer riesigen Müllhalde all der Dinge, die wir Menschen seit unseren Anfängen abgelehnt haben – Dinge, die bereits ausgedrückt, artikuliert und ausrangiert wurden.

Dieser Kram ist eine Art Unbewußtes, und ich fürchte, daß er wieder an die Oberfläche des Internet drängt. Vieles, wovon ich persönlich hoffte, nie wieder damit zu tun zu haben, kehrt wie Müll aus dem Weltall auf meinen Bildschirm zurück. Jede schlechte Fassung jedes schlechten Gedankens, den ich jemals hatte, wird da draußen von irgend jemandem gelehrt und vorgeführt. Mein Freund Ted Thomas nannte das eine Art „elektronisches Bittersalz“, das die schwarzen Gedanken herauszieht.

Andererseits kann die Wiederkehr des Unterdrückten sogar befreiend wirken. Vieles davon ist auf Geheiß der Mächtigen unterdrückt worden. Vielleicht wirkt es auch heilend, die Geister unserer privaten und kollektiven Vergangenheit erneut zum Leben erwachen zu sehen. Ich habe daran zwar einige Zweifel, aber die Frage lohnt: Zieht die Interaktivität im Prozeß ihrer Sprachwerdung Unterdrücktes und Vergessenes hervor? Und wenn ja, was tut sie damit jenen an, die glaubten, sie seien auf dem Weg nach vorn, in unvermessenes Gebiet?

Der Autor lebt in Amerika und gibt unter anderem die Zeitschrift „Exquisite Corpse: a Journal of Books and Ideas“ heraus. Obiger Text ist ein Auszug aus seinem Vortrag „Some remarks on interactivity (with a small treatise on language)“, den er im Juni 1995 im Rahmen des „Tracing the Interactive Idiom panel“ in Los Angeles hielt.