Mit dem Globus ums Dorf

Kein Generationswechsel, ein bißchen Internationale, wenig Zukunftsmusik: Albert Mangelsdorff startet beim Berliner JazzFest mit „Jazz Played In Germany“  ■ Von Christian Broecking

Der Gedanke war nicht unbedingt der originellste, rein medienpolitisch gesehen, aber die Zeit war im Verzug. Und so lautet das Motto, mit dem der 67jährige Posaunist Albert Mangelsdorff seinen Einstand als Chef des Berliner JazzFests gibt, eben „Jazz Played in Germany“. Das Vorhaben: Sich 50 Jahre deutscher Nachkriegsentwicklung in Sachen Jazz zu widmen, „Einheimische zu präsentieren“, so Mangelsdorff, „die ich auf Jazzfestivals schon immer unterrepräsentiert fand“.

Der Aufschrei kam umgehend. Darauf habe man gerade noch gewartet, daß der Mangelsdorff nun seine Frankfurter Kumpels aus den Urzeiten des Bergwerk-Jazz, die Wuppertaler Schule, die Jazz- Dichter-Nordlichter, die Berlin- Ost-Avants und die Berlin-West- Neotrads, ins Haus der Kulturen der Welt lädt, um den Jazz auf Nation zu polieren. Es herrsche wohl Mangel im Dorf, so munkelte man zunächst. Und doch wurde auf den eigenen Vorteil spekuliert. Am lautesten und peinlichsten schallte im Vorfeld aus dem Osten der Ruf nach der regionalen Quote.

Doch Mangelsdorff ließ sich von den Bannerträgern des Ost- Jazz und ihrem posthistorischen Autonomiegetümel nicht verwirren. Er lud Zentralquartett und die einsame Sängerin ein. „Sie war für uns Musiker wie für das Publikum in diesem ummauerten Pförtner- und Polit-Spießer-Kleingarten, genannt ,DDR‘, die einzig legitime Soul-, Blues- und Gospel- Stimme“, referiert der Projektleiter Ernst-Ludwig Petrowsky über Uschi Brüning. Auch sonst hat sich Mangelsdorff als Mann des Eigenwillens erwiesen. Der Generationswechsel nach der Ära Gruntz fand nicht statt. Nicht in Berlin. Nicht in der JazzFest-Leitung. Im Gegenteil. Daß Mangelsdorff nach Berlin gerufen wurde, war auch „eine politische Entscheidung“, resümiert der Festspiele-Intendant Dr. Ulrich Eckhardt. In Zeiten knapper werdender Subventionen brauchte es einen Kandidaten, der fachkompetent, international erfahren und respektiert ist und sich national einen Namen gemacht hat, den auch noch der letzte Lokalpolitiker kennen kann und muß, wenn er pro Kultur seinen Arm heben soll.

Auch das mächtige ARD-Gremium, das immer noch einen erheblichen Teil zum Millionenetat des JazzFests beisteuert, gab sich pro Mangelsdorff und wider einen Wechsel der Generationen. Das seien doch Streits von gestern, winkt der derzeitige ARD-Gremiumssprecher Dr. Ulrich Kurth ab, der das einst Diskursive am Jazz auf die Formel „Qualität setzt sich durch“ bringen möchte. Und so gesehen seien manche Alte von heute kreativer und mutiger als die Scharen von Youngstern, die mit einer Neo-Bop-Kapelle zu landen suchen.

Zukunftsmusik wird beim JazzFest 95 also kaum zu hören sein. Zur „Groove Night“ kommen Peter Herbolzheimer und Klaus Doldinger, um ein Vierteljahrhundert Dancefloor-Jazz made in Germany zu feiern. Mit diesem Griff bewegt Mangelsdorff sich programmatisch zumindest auf der Höhe der Zeit – ohne es allerdings so recht zu wissen. Oder ahnt er doch, daß Acid-Jazz-Erfinder Gilles Peterson Leute wie Herbolzheimer für den Zeitgeist recycelt? Zumindest hat der hippe englische Produzent für seine „Talkin' Jazz“- Compilation jüngst erst den Schwarzwald-Hip-Walk der Siebziger entdeckt. Man muß immerhin zugeben: Bei Mangelsdorff bleibt das JazzFest trotz allem irgendwie international. Zu erwarten ist, daß er auch in den kommenden Jahren die „europäische Komponente“ featuren wird, amerikanische Highlights gehören für ihn ebenso untrennbar zu „Jazz Played in Germany“. In diesem Jahr wird der Godfather des „New Thing in Jazz“, Ornette Coleman, mit einer Multimediashow das JazzFest eröffnen. Coleman, der vor über 35 Jahren mit seinem Harmolodic-Konzept den Jazz revolutionierte, wird bei seinem einzigen Deutschlandauftritt in diesem Jahr seine aktuelle Prime-Time-Band vorstellen – und Musik, die immer noch klingt, als würden sich zwei verschiedene Platten gleichzeitig drehen.

Die große Entdeckung des diesjährigen JazzFests ist mit dem charismatischen Sänger Jimmy Scott annonciert, der, gerade siebzigjährig, die ungewöhnlichsten und kompromißlosesten Jazzballaden singt, die Sie weit und breit hören können. Allerdings: Daß der Saxophonist Johnny Griffin, der in diesem Jahr sein fünfzigjähriges Bühnenjubiläum schaffte, lediglich als kleingedruckter Special Guest des Berliner Mainstream-Twens Till Brönner auftritt, mag verdeutlichen, daß „Jazz Played in Germany“ doch auch so einiges von verdrehter Welt hat.

Eines scheint erst mal gelungen: Das Jahr-1-Programm des Albert Mangelsdorff unterscheidet sich grundlegend von den großen kommerziellen Festivals, die zu Durchlaufstationen für Hype- und Superstars des amerikanischen Jazz-Busineß mutiert sind. Es dürfte gar das erste Berliner JazzFest sein, das ganz ohne einen Musiker aus der „Jazz Artist of the Year“-Kategorie auszukommen versucht. Und wenn man den ersten Vorverkaufszahlen Glauben schenken mag, scheint es gar schon einen kleinen Run auf die Karten gegeben zu haben. Verdrehte Welt oder die Entdeckung der Groove- Nation: Die Ära Mangelsdorff hat begonnen.

JazzFest Berlin: bis zum 5.11. im Haus der Kulturen der Welt.