■ Stabilität wird es in Kanada auf absehbare Zeit nicht geben: Das Projekt „Einheit“ ist gescheitert
Es bleibt – vorerst – beim Konjunktiv. Was wäre gewesen, wenn Kanada, der vermeintlich so unerschütterliche Nachbar der USA, auseinandergebrochen wäre? Politisches Chaos? Wahrscheinlich. Panik an der Börse? Ganz sicher. Doch eine hauchdünne Mehrheit der Quebecer hat gegen die Sezession gestimmt. Die internationalen Börsen dankten es ihnen mit einer Aufwertung des kanadischen Dollars und suggerierten so eine Stabilität, die es in Kanada derzeit nicht gibt – und nach diesem knappen Ergebnis auf absehbare Zeit nicht mehr geben kann. Die Separatisten haben bereits angekündigt, daß dies nicht die letzte Runde im Kampf um ihre Unabhängigkeit war.
Die nächste, so steht zu befürchten, wird sehr viel häßlicher. „Le Quebec aux Quebecois!“ – dieser Schlachtruf wird in Zukunft nicht nur gegen die Bundesregierung in Ottawa ausgestoßen werden, sondern auch gegen Anglophone und Immigranten in Quebec, jene Minderheiten, die der radikale Flügel der Sezessionisten um Quebecs Regierungschef Jacques Parizeau für die Niederlage verantwortlich macht. Was sich bislang noch wie ein Kampf um sprachliche und kulturelle Identität sowie um politische Autonomie ausgenommen hat, könnte in den nächsten Jahren in ein Klima der Xenophobie und der Polarisierung zwischen Frankophonen und Anglophonen eskalieren.
Nun ist die Diskussion um den Status Quebecs eine kanadische Dauerobsession, und man könnte meinen, daß das Land auch diese Runde heil und als Ganzes übersteht. Doch der Nationalstaat Kanada ist heute sehr viel fragiler als noch vor fünfzehn Jahren, als das erste Unabhängigkeitsreferendum in Quebec scheiterte. Der Sozialstaat – eine wichtige Säule der kanadischen Identität – ist aufgrund des hohen Haushaltsdefizits in der Krise. Das einstmals stabil erscheinende Dreiparteiensystem wurde bei den letzten Wahlen zu Makulatur. Die stärkste Oppositionskraft hinter dem sezessionistischen Bloc Quebecois ist die Reform Party, die einen anglophonen Nationalismus predigt, massiv gegen jeden Sonderstatus Quebecs innerhalb Kanadas opponiert und so manchen Anglophonen, die in den Westprovinzen mit Sezession liebäugeln, eine politische Heimat bietet. Vor diesem Hintergrund einen Kompromiß auszuhandeln, der einer Mehrheit der frankophonen Quebecer den Verbleib in Kanada attraktiver erscheinen läßt als die Abspaltung, erscheint unmöglich.
Kanada hat den drohenden Zerfall gerade noch einmal überstanden. Doch das große Projekt der 80er Jahre, auf Basis des Bilingualismus und eines staatlich verankerten Multikulturalismus die „Einheit Kanadas“ aufzubauen, ist gescheitert. Andrea Böhm
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